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MusikBelarus

Belarussische Band Irdorath: Für Musik ins Gefängnis

Tatjana Schweizer
15. Mai 2024

Zwei Jahre Haft für Musikspielen auf friedlichen Protesten? Solche Urteile gehören zum Alltag im heutigen Belarus, wo die Repressionen seit 2020 immer weiter zunehmen.

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Ein Mann und eine Frau in Kapuzenjacken, beide tragen Dudelsäcke.
In der Gothic-Mittelalterszene sind Irdorath bekannt - jetzt touren sie wiederBild: Irdorath

Rechnerisch 144 Menschen je eine Million Einwohner - so viele politische Gefangene gibt es aktuell nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Wjasna in Belarus. Zum Vergleich: In Russland, wo die Repressionen gerade auch stark zunehmen, sind es laut der NGO Memorial vier. Doch viele Geschichten bleiben unerzählt - allein der Kontakt mit unabhängigen Medien könnte zu neuen Strafen führen.

Nadzeya und Uladzimir sind die Köpfe der belarussischen Folk-Band Irdorath. Sie wurden zu zwei Jahren Haft verurteilt, weil sie auf Protesten gegen das Lukaschenko-Regime Musik gespielt hatten. Seit einem Jahr sind sie frei, beide leben heute in Berlin. Erst jetzt findet das Ehepaar Kraft, darüber zu sprechen, was Tausende Belarussen - darunter Kulturschaffende, Oppositionelleunabhängige Journalistenin den letzten Jahren im Land erleiden müssen.

Repressionen lassen auch vier Jahre nach den Protesten nicht nach

Uladzimir und Nadzeya stehen in ihrem kleinen Proberaum in Berlin. Früher war es eine Küche. Sie haben sie renoviert und umgebaut. "Als wir hier zum ersten Mail hereinkamen, sahen wir den rot-grün gefärbten Boden, das mussten wir natürlich sofort ändern", erzählt Uladzimir. Denn Rot und grün sind Farben der belarussischen Staatsflagge und damit für viele Menschen Symbol der Lukaschenko-Diktatur, die vielen Belarussen die Freiheit geraubt hatmanchen gar das Leben.

Vor einem Plakat mit zwei Menschen, die die Faust in den Himmel strecken, steht ein Musiker und spielt Gitarre, umringt von friedlichen Demonstranten.
Friedlicher Protest mit Musik am "Platz des Wandels" in Minsk im Dezember 2020Bild: Nadzeya Buzhan

Rückblick: Als im Jahr 2020 in Belarus wieder Präsidentschaftswahlen anstehen, werden die stärksten Gegner von Lukaschenko, der zu dem Zeitpunkt seit 26 Jahren regiert, verhaftet oder zu den Wahlen nicht zugelassen. Das löst die ersten Protestaktionen im Land aus. Später versammeln sich viele Belarussen hinter Swetlana Tichanowskaja, die anstelle ihres verhafteten Mannes kandidiert. Doch trotz beispielloser Unterstützung der Bevölkerung erreicht sie - nach offiziellen Angaben - nur zehn Prozent der Stimmen.

Ungebrochener Protest

Die Menschen gehen in Massen auf die Straßen, demonstrieren gegen Wahlfälschungen. Auch Kulturschaffende schauen nicht weg. Uladzimir und Nadezhda nehmen an den friedlichen Protesten teil und spielen Musik auf ihren Lieblingsinstrumenten - Dudelsäcke. Sie fordern faire Wahlen und den Stopp der Polizeigewalt gegenüber den Demonstrierenden. Doch die Machthaber greifen immer härter durch. Die Proteste werden weniger sichtbar, die Repressionen hingegen verschärfen sich.

Der Zustand hält sich bis heute, da alle Oppositionspolitiker, politische Aktivisten und Vertreter unabhängiger Medien entweder längst in Haft oder im Exil sind. Mehr noch: Das Regime lässt nicht nach. Das Internet wird durchforstet - auf der Suche nach Menschen, die vor vier Jahren von Meinungsfreiheit Gebraucht machten: sei es durch die Teilnahme an Protesten, kritische Kommentare auf Internetseiten oder auch nur ein Like darunter. Allein im April 2024 wurden im Land mindestens 161 politisch motivierte Gerichtsurteile gefällt, teilt Wjasna mit. Es könnten mehr sein. Die NGO, die ebenfalls aus dem Exil arbeiten muss, geht davon aus, nicht über alle Fälle informiert zu sein.

Politische Gefangene müssen eine Markierung tragen

Nadzeya und Uladzimir werden bei den Demonstrationen nicht sofort verhaftet - aber sie werden beobachtet. Ein Jahr nach den umstrittenen Wahlen feiern sie Nadzeyas Geburtstag mit Freunden, als vermummte Einsatzkräfte hereinplatzen und zu schießen beginnen, wie eine der Freundinnen später erzählt. Sechs Musiker werden festgenommen. Darunter Uladzimir und Nadzeya, die anschließend zu zwei Jahren Haft verurteilt werden - weil sie angeblich "öffentliche Ordnung grob verletzt haben".

Ein Mann und eine Frau sind über einen Stapel Briefe gebeugt.
Briefe, die Nadzeya und Uladzimir während der Haftzeit einander geschrieben habenBild: DW

"Ich hatte das Gefühl, in der tiefsten Hölle gelandet zu sein", erzählt Uladzimir der DW über ihre Zeit im belarussischen Untersuchungsgefängnis. "Auf einem etwa 20 Quadratmeter Raum leben dort 24 Menschen und mehrere Kolonien an Kakerlaken. Fenster gibt es nicht, es kommt keine frische Luft in den Raum". Aber das sei leichter auszuhalten gewesen als das regelmäßige Drangsalieren der Wächter, sagt Uladzimir.

In belarussischen Gefängnissen müssen Insassen, die "zum Extremismus oder anderer destruktiver Tätigkeit neigen" - sprich politische Aktivisten, Journalisten, Künstler und all die, die etwas "falsch" kommentiert oder gutgeheißen haben - eine gelbe Markierung tragen, um von anderen Gefangenen unterschieden zu werden. Die mit der Markierung werden strenger kontrolliert, öfter durchsucht und schneller bestraft, die prominenten unter ihnen in der Regel auch isoliert.Von vielen hat man seit über einem Jahr nichts mehr gehört.

Wieder frei

Uladzimir und Nadzeya kommen nach zwei Jahren Haft am selben Tag frei. "Wie in einem guten oder schlechten Märchen", sagt Uladzimir. Als die beiden sich wieder treffen, gehen sie zum See und spielen ihre Dudelsäcke. "Das tat gut", erinnert sich Nadzeya.

Ein Mann und eine Frau stehen am Ufer eines Sees und spielen Dudelsack.
Zusammentreffen am See: nach zwei Jahren Haft ist das Paar wieder vereintBild: Irdorath

Doch gut geht es ihnen nicht lange. Über die Zeit in Belarus direkt nach der Freilassung wollen sie nicht viel sagen und erzählen nur kurz: "Wir wurden von der Polizei nicht in Ruhe gelassen. In Belarus zu bleiben war keine Option". Zuerst kommt das Paar nach Polen, ein paar Monate später siedeln sie sich nach Berlin über.

"Wir kamen nach Berlin, weil Deutschland mit seinen mittelalterlichen Festivals Zentrum unseres künstlerischen Universums ist", sagt Uladzimir. Irdorath ist seit vielen Jahren in Mittelalterfolk-Kreisen in Deutschland und anderen Ländern Europas bekannt. Sie waren 2017 die erste Band aus Belarus, die beim Wacken Open Air in Deutschland auftrat.

Von Null anfangen

In Berlin muss das Ehepaar fast von Null anfangen. Sie müssen nicht nur die Band neu aufstellen, sondern auch viel üben. "Man will spielen, wie man es vor dem Gefängnis gemacht hat, guckt auf seine Finger - aber es funktioniert einfach nicht. Und so übt man dann wieder stundenlang mit einem Metronom", erzählt Nadzeya.

Eine Frau und ein Mann sitzen in einem Musikraum vor einem Schlagzeug und erzählen.
Irdorath im Interview mit dw.comBild: DW

Das Paar zieht sich am Anfang zurück, es ist schwer für sie, in Berlin in der belarussischen Diaspora zu sein, zu oft kommen die Gespräche auf das Thema, das sie meiden möchten, um nicht zu oft an die Zeit im Gefängnis erinnert zu werden. Selbst mit der Familie zu telefonieren sei eine Herausforderung gewesen. "Uns fällt es bis heute noch schwer, mit Menschen zu reden, die nicht im Gefängnis saßen, die nicht Ähnliches erlebt haben", erzählt Uladzimir.

Doch die Musik helfe. Wieder auf der Bühne zu stehen ist seit der Freilassung ihr Hauptziel. "Uns wurde vieles kaputtgemacht, aber wir haben nicht vor, uns damit abzufinden. Kein Regime kann uns unser Lebenswerk wegnehmen", sagt Nadzeya.

Im Mai 2024 hat die Band ihr erstes Konzert seit der Freilassung mit großem Erfolg gespielt. Weitere Auftritte auf Dark Metal- und Gothic-Festivals sind angekündigt. Auf Instagram schreibt die Band: "Wir haben die ersten schweren Schritte gemacht und starten damit in eine neue Ära. Dank Euch machen wir uns auf diesen Weg mit Wärme in unseren Herzen".