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Gesellschaft

Der Mythos der gespaltenen Gesellschaft

17. September 2023

Kulturkampf, Polarisierung, Spaltung: Politiker warnen und der Ton in sozialen Netzwerken wird rauer. Das lässt Schlimmes vermuten. Doch Forschende geben Entwarnung. Woher kommt unsere Fehlwahrnehmung?

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Demonstrantinnen und Demonstranten halten Spruchbänder hoch und protestieren gegen Polizeirazzien gegen die "Letzte Generation"
Berlin 2023: Unterstützerinnen und Unterstützer der Klimabewegung "Letzte Generation" demonstrieren gegen die Kriminalisierung der AktivistenBild: JONAS GEHRING/aal/IMAGO

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sieht in einem sozialen Pflichtjahr die Möglichkeit, der Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron kündigte nach den Unruhen in diesem Sommer an, gegen die drohende Spaltung des Landes vorgehen zu wollen. Und als vor zwei Jahren in vielen Ländern Diskussionen um eine Corona-Impfpflicht entbrannten, wurde oft vor einer möglichen Spaltung der Gesellschaft gewarnt.

So entsteht der Eindruck: In vielen westlichen Ländern sind die politischen und kulturellen Gräben tiefer als je zuvor. Die harten Bandagen, mit denen oftmals in öffentlichen Debatten gekämpft wird - bei Themen wie Abtreibung, Gendern, Klimawandel, Migration oder Rassismus -, verstärken diese Wahrnehmung.

Dass Gesellschaften in den vergangenen Jahrzehnten vielfältiger geworden sind, ist laut dem Soziologen Stefan Hradil unbestreitbar. Der emeritierte Professor der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz erklärt: "Ausdifferenzierung ist alternativlos in modernen Gesellschaften. Das hängt mit wachsenden Freiheitsgraden, Bildung, Migration und vielem mehr zusammen."

Polen 2021: Protest zum Jahrestag des Abtreibungsverbots - Menschen halten Slogans auf Pappe und Fahnen hoch
Warschau 2021: Protest gegen das Verbot von Abtreibungen in Polen Bild: Czarek Sokolowski/AP Photo/picture alliance

Dies sei jedoch deutlich zu trennen von dem, was man als Spaltung bezeichne: "Eine Ausdifferenzierung muss überhaupt keine Spaltung sein. Sie könnte sich zwar zu einer entwickeln - dazu muss jedoch viel passieren." 

Auch Bobby Duffy, Leiter des Instituts für Politikwissenschaft am King's College London, erklärt: "Natürlich gibt es Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft. Aber sie werden übertrieben dargestellt. Studien zeigen, dass wir im Großen und Ganzen recht gut miteinander auskommen."

Politiker, Social Media und verzerrte Wahrnehmung

Stellt sich die Frage: Warum haben wir dann den Eindruck, dass es in vielen Ländern ganz anders ist?

Zum einen müsse man sich bewusst machen, dass Politiker, Meinungsmacher - und auch Medien - Begriffe wie Spaltung oder Kulturkampf oft als Kampfbegriffe nutzten und damit Emotionen hervorrufen wollten, erklärt Hradil. So tragen sie ihren Teil zu dem Zerrbild bei. 

Und auch die sozialen Netzwerke haben ihren Anteil daran: Dort ziehen nicht etwa gemäßigte, mehrheitsfähige Standpunkte die meiste Aufmerksamkeit auf sich - sondern extreme Positionen und laute Minderheiten. 

Duffy, der ein Buch über die Fehlwahrnehmung sozialer Realitäten geschrieben hat, weist darauf hin, dass zudem die sogenannten "cognitive biases" eine Rolle spielen, also unbewusste Verzerrungen im Denken und Wahrnehmen. "Wir wissen zum Beispiel, dass Menschen sich eher auf negative Informationen konzentrieren als auf positive. Und wir wissen, dass wir eher auf emotionale Geschichten reagieren als auf Fakten und Zahlen."

2020 in Berlin: Demonstranten besetzen die Stufen vor dem Bundestag und Proklamieren einen Sturm auf den Reichstag
Sturm auf das Reichstagsgebäude in Berlin 2020: Rechte schwenken Reichsflaggen und rufen zur Revolution aufBild: JeanMW/imago images

In der Sozialpsychologie sei zudem oft von "rosy retrospection" (rosiger Rückblick) die Rede, was bedeute: "Das Schlechte aus der Vergangenheit vergessen wir schnell, und das lässt gleichzeitig die Gegenwart schlimmer erscheinen, als sie ist."

In jeder Gesellschaft gibt es verschiedene Bruchlinien - etwa zwischen arm und reich, rechts und links, jung und alt. Für Deutschland konstatiert Duffy: "In vielen anderen Ländern sehen wir zum Beispiel stärkere Spannungen zwischen einer Art Großstadt-Elite und den Menschen vom Land. Das ist in Deutschland nicht besonders ausgeprägt. Ein Thema, das die Deutschen sehr polarisiert, ist dafür Migration."

Wie lässt sich Spaltung messen?

Eine Gesellschaft kann also in einem Bereich gespaltener sein, in einem anderen dagegen weniger. Beim Messen von Spaltungstendenzen wird in der Forschung unter anderem zwischen "themenbezogener Polarisierung" und "gruppenbezogener Polarisierung" unterschieden. Während erstere Dissens bei konkreten politischen oder sozialen Fragen beschreibt, spricht man von einem hohen Grad "gruppenbezogener Polarisierung", wenn ganze Gruppen sich gegenseitig abwerten. Duffy zufolge beinhaltet eine solche Art "Stammesdenken", dass man dem anderen Lager grundsätzlich nicht vertraut und es "in gewisser Weise entmenschlicht".

Deutschland  | Wasserwerfereinsatz bei Demonstration gegen Corona-Einschränkungen im Jahr 2020
Berlin 2020: Proteste gegen Corona-Einschränkungen - und Wasserwerfer gegen die ProtestierendenBild: Paul Zinken/dpa/picture alliance

Während in Großbritannien etwa in den vergangenen Jahrzehnten die "themenbezogene Polarisierung" nicht zugenommen habe, sei das bei "gruppenbezogener Polarisierung" durchaus der Fall - etwa zwischen Befürwortern und Gegnern des Brexit. Duffy sagt: "Und das ist der Trend, über den wir uns alle Sorgen machen, und der in den USA schon recht weit vorangeschritten ist."

Laut Soziologe Hradil lässt sich gesellschaftliche Spaltung in die folgenden vier Dimensionen unterteilen: eine soziale, eine politische, eine wirtschaftliche und eine soziokulturelle. Konkret heißt das: Wie sehr toleriere ich meine Mitmenschen? Wie sehr achte ich die politischen Institutionen - und wie sehr achten sich Politiker gegenseitig? Wie gespalten ist die Gesellschaft in finanzieller Hinsicht? Und wie sehr tolerieren bzw. misstrauen sich verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen? 

Für eine Publikation zum Thema hat er zusammen mit Kollegen Ergebnisse der Eurobarometer-Umfrage der Europäischen Kommission veranschaulicht (siehe Infografik). Bürgerinnen und Bürger der 27 EU-Mitgliedsstaaten wurden gefragt, wie sehr sie ihren Mitmenschen und wie sehr ihrer nationalen Regierung vertrauen. Das Ergebnis: Im EU-Durchschnitt trauen 60 Prozent ihren nationalen Regierungen "eher nicht". Am wenigsten Vertrauen genießen die slowenische Regierung (77 Prozent misstrauische Befragte) und die kroatische Regierung (76 Prozent misstrauische Befragte).

Besser sieht es beim sozialen Zusammenhalt aus: Nur eine Minderheit, im EU-Durchschnitt 28 Prozent der Befragten, traut ihren Mitmenschen "eher nicht" oder "überhaupt nicht". In Dänemark ist die Misstrauens-Quote mit fünf Prozent am geringsten, am meisten misstrauen die Menschen einander in Malta (46 Prozent) und Frankreich (38 Prozent).

In Bezug auf Deutschland zeigen die Zahlen: Die Spaltungstendenzen auf politischer und sozialer Ebene sind vergleichsweise gering. Das Misstrauen liegt mit 44 Prozent gegenüber der Regierung und 21 Prozent gegenüber Mitmenschen jeweils unter dem Durchschnitt in der Europäischen Union.

"Meinungsverschiedenheiten sind gesund"

Dass trotzdem hierzulande so viel über Spaltung gesprochen wird, könnte auch damit zusammenhängen, dass die Deutschen eine sehr romantische Vorstellung von einer idealen Gesellschaft haben, vermutet Hradil. "Und wenn die Messlatte besonders hoch liegt, dann ist das Erstaunen und das Ärgernis über Konflikte umso größer."

Leipzig, Deutschland, Montagsdemo 2022 - Protestrufe von Demonstranten - Männer schütteln Fäuste
Montagsdemo in Leipzig 2022: Wut auf die Regierung wegen der EnergiekriseBild: Bernd März/IMAGO

Inflationäre Warnungen vor einer Spaltung der Gesellschaft können allerdings zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden - und ermüden: Werden wir entsprechende Warnungen noch ernst nehmen, wenn die Situation einmal wirklich kritisch wird?

Vielleicht hilft es auch, sich zu vergegenwärtigen: Moderne demokratische Gesellschaften leben in gewisser Weise davon, dass in ihnen unterschiedliche Meinungen und Gruppierungen aufeinandertreffen und miteinander ringen. Sonst würden sie sich nicht weiterentwickeln. 

Das sieht auch Bobby Duffy so: "Politische oder kulturelle Meinungsverschiedenheiten sind gesund und unvermeidlich. Ungesund wird es dann, wenn diese Meinungsverschiedenheiten so sehr zum Teil der persönlichen Identität werden, dass man nicht mehr kompromissbereit ist - dass man sich nur noch als Teil eines Lagers begreift, das gegenüber dem anderen Lager nicht nachgeben wird, egal bei welchem Thema."

DW Fact Checking-Team | Ines Eisele
Ines Eisele Faktencheckerin, Redakteurin und AutorinInesEis