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PolitikUkraine

Leben in der Ukraine immer weniger Menschen?

5. Oktober 2023

Schon vor dem Krieg sind in der Ukraine so wenige Kinder geboren worden, dass die Bevölkerung nicht gewachsen ist. Jetzt hat sich die Situation dramatisch verschlechtert. Wie wird die künftige Entwicklung aussehen?

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BG Ukraine Krieg | Babys in einem Schutzraum in Kiew
Babys in einem Schutzraum in KiewBild: Gleb Garanich/REUTERS

Im ersten Halbjahr 2023 wurden in der Ukraine etwa 93.500 Kinder geboren - 28 Prozent weniger als im gleichen Zeitraum im Vorkriegsjahr 2021. Ein Abwärtstrend bei der Geburtenrate ist aber schon seit einem Jahrzehnt zu beobachten. Die Abwanderung der weiblichen Bevölkerung ins Ausland und die mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verbundenen Sicherheitsrisiken haben immense Auswirkungen. 

Der Rückgang der Geburtenrate könne zusammen mit einer übermäßigen Sterblichkeit und Migration die Bevölkerung der Ukraine von derzeit etwa 37 Millionen im schlimmsten Fall auf 26 Millionen in zehn Jahren dezimieren, meint die Leiterin des ukrainischen Instituts für Demografie und Sozialforschung, Ella Libanowa.

Tetiana aus der Ukraine weint mit ihrer Tochter im Arm während einer Begrüßungszeremonie nach ihrer Ankunft in einer Einrichtung in Brasilien, 14. April 2022
Ukrainische Flüchtlingsfrauen mit Kindern nach ihrer Ankunft in einer Einrichtung in Brasilien, 14. April 2022Bild: Brunno Covello/dpa/picture alliance

Schon vor dem Krieg sorgte die Geburtenrate in der Ukraine nicht für eine stabile Bevölkerungsentwicklung, bei der mindestens 210 Kinder auf 100 Frauen kommen müssen. Im Jahr 2021 betrug dieser Wert 116 und im Jahr 2022 ging die Zahl der Geburten um weitere 25 Prozent zurück. Wie die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Demografie und Sozialforschung, Switlana Aksjonowa, im Gespräch mit der DW sagte, ist dies allerdings auf die Folgen der COVID-19-Pandemie und nicht auf den Krieg zurückzuführen. Allein im Jahr 2021 habe es in der Ukraine unter bestätigten Coronavirus-Fällen 86.000 Todesfälle gegeben. "Damals entschieden viele Familien, ihren Nachwuchs zu verschieben, bis eine sicherere epidemiologische Lage eintritt", so die Expertin. 

Was ist mit den im Ausland geborenen Kindern?

Aksjonowa weist im Zusammenhang mit dem starken Geburtenrückgang darauf hin, dass in der Statistik für 2022 die im Ausland geborenen Kinder der ukrainischen Flüchtlinge nicht berücksichtigt werden. "Nach den uns vorliegenden Informationen sind sie in dieser Statistik nicht enthalten, ebenso wie einige der Geburten in den von Russland besetzten Gebieten", erläutert sie. Die DW wollte vom ukrainischen Justizministerium wissen, wie viele ukrainische Kinder letztes Jahr nach Beginn des umfassenden Krieges im Ausland geboren wurden, doch bislang liegt dazu keine Antwort vor.

Im Jahr 2023 sind laut Aksjonowa die Auswirkungen des Krieges auf die Geburtenrate in der Ukraine noch viel deutlicher geworden. Im ersten Halbjahr verzeichneten die Demografen einen Rückgang von neun Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Das sei angesichts des Krieges und der damit verbundenen ständigen Gefahren zu erwarten gewesen.

Wie sich die Geburtenrate in der Ukraine nach dem Krieg entwickeln werde, sei schwer vorauszusagen, so die Expertin. Ihr zufolge haben Demografen inzwischen etwa fünfzig verschiedene Szenarien für die weitere Entwicklung der Lage entwickelt, abhängig vom Kriegsverlauf und dem Migrationsverhalten der Bevölkerung. Laut Aksjonowa ist nach Kriegsende nicht mit einem signifikanten Anstieg der Geburten zu rechnen. "Wir werden einen kompensatorischen Anstieg dank des jetzt verschobenen Nachwuchses haben, aber dieser wird gering ausfallen", prognostiziert die Expertin.

Als Grund nennt sie die Folgen des Krieges wie die Zerstörung von Infrastruktur und Wohnraum sowie Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Zudem müsse mit einer Zunahme von Kinderlosigkeit aufgrund von Kriegstraumata gerechnet werden. "Die Menschen glauben zunehmend, es sei falsch, in dieser grausamen Welt ein Kind zur Welt zu bringen und es solchen Gefahren auszusetzen", erklärt die Demografin.

Über sechs Millionen Ukrainer geflüchtet

Gleichzeitig spiele die Migration eine entscheidende Rolle bei der Prognose künftiger Entwicklungen der Geburtenrate. Seit Beginn der umfassenden russischen Aggression haben mehr als 6,2 Millionen Menschen die Ukraine verlassen, die meisten davon Frauen im erwerbsfähigen Alter sowie Kinder. "Je länger der Krieg dauert, desto größer ist der Anteil derjenigen, die lieber im Ausland bleiben. Eines der Szenarien geht davon aus, dass es in bestimmten Altersgruppen künftig mehr Männer als Frauen geben wird, weil ein erheblicher Teil der ukrainischen Frauen nicht mehr in die Ukraine zurückkehren wird", sagt Aksjonowa.

Kinder ukrainischer Flüchtlinge bei einer Demonstration in Berlin, 24. August 2023
Kinder ukrainischer Flüchtlinge bei einer Demonstration in Berlin, 24. August 2023Bild: Michael Kuenne/PRESSCOV/ZUMA/picture alliance

Zudem gebe es mit Blick auf die künftige Geburtenrate noch weitere Faktoren. "Vor dem Krieg wünschten sich laut soziologischen Erhebungen die meisten Menschen mehr als ein Kind", sagt die Expertin. Ob die Eltern dies realisieren können, hänge auch von der Sicherheits- und Wirtschaftslage, von den Wohnverhältnissen, dem Glauben an die Zukunft und vom Vertrauen in die Regierung ab.

Kann die Ukraine Menschen zur Rückkehr bewegen?

Dmytro Bojartschuk vom Zentrum für sozioökonomische Forschung CASE Ukraine meint, die Regierung sollte auf den Bevölkerungsrückgang schon heute reagieren und entsprechende Wirtschaftsreformen ergreifen. Der Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter werde vor allem dem Rentensystem Probleme bereiten.

"Ukrainische Flüchtlinge haben die Erfahrung gemacht, dass ihre Arbeit [im Ausland] unter Umständen viel besser bezahlt wird als in der Ukraine. Sollte sich in der Ukraine alles schnell entwickeln, dann besteht die Chance, Ukrainer aus dem Ausland zur Rückkehr zu bewegen", erläutert Bojartschuk. "Aber wenn bei uns keine interessante, wettbewerbsfähige Arbeit angeboten wird, wird man die Menschen nicht im Land halten können."

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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