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Pilgern - zum Horizont und zu sich selbst

Klaus Krämer
1. April 2018

Immer mehr Menschen in Westeuropa sind vom "Pilgervirus" befallen, sagen Fachleute fürs Pilgern. Viele verlassen in den nächsten Monaten ihre Komfortzonen und begeben sich für eine Weile auf holperige und krumme Wege.

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Spanien Pilgern auf dem Jakobsweg
Bild: Getty Images/AFP/M. Riiopa

Frühling - in den nächsten Wochen und Monaten starten wieder die Pilger - Menschen, die sich auf einen mehr oder weniger meditativen Weg machen. Die meisten werden vermutlich auf einem Abschnitt des Jakobswegs gehen, dem bekanntesten Pilgerweg durch Europa. Sein weitverzweigtes Netz, insgesamt 42.000 Kilometer, durchzieht zahlreiche Länder und führt die einzelnen Wege vor allem im Camino Francés zusammen. Diese mittelalterliche Haupthandelsroute in Nordspanien verläuft von den Pyrenäen nach Westen. Endpunkt ist Santiago den Compostela.

Dort, in Galicien, dem Nordwesten Spaniens, fast am Atlantik, soll Apostel Jakobus der Ältere bestattet sein, ein Schüler von Jesus. Das machte die Stadt schon vor über 1000 Jahren neben Jerusalem und Rom zum beliebtesten christlichen Pilgerziel. 1993 schaffte es der spanische Hauptweg sogar als UNESCO-Welterbe anerkannt zu werden.

Zahl der Pilger steigt

Blick auf die Gemeinde Castrojeriz am Camino Francés in der Provinz Burgos.
Blick auf die Gemeinde Castrojeriz am Camino Francés in der Provinz Burgos. Für die Pilger gibt es dort einige Herbergen.Bild: picture-alliance/dpa/M. Vahlsing

Nachdem das christlich motivierte Pilgern insgesamt und auch nach Santiago de Compostela fast in Vergessenheit geraten war, erfuhr es in den 1970er Jahren eine Renaissance. Besonders in diesem Jahrtausend stieg die Zahl der Pilger rasant an. Verlässliche Zahlen gibt es allerdings nur für den Jakobsweg. Denn dort wird Buch geführt. Wer die letzten 100 Kilometer bis zum Grab des Apostels Jakobus zu Fuß zurücklegt, schafft es in die offizielle Statistik: 2006 waren das 100.000, 2013 schon 200.000 und im vergangenen Jahr fast 300.000 Pilger. Darunter gut 23.000 Deutsche, 2017 nach Spaniern und Italienern die drittgrößte nationale Gruppe.

Woran liegt das? "Wir haben immer mehr virtuelle Welten, immer mehr, was nicht mehr original ist, immer mehr Kopien auch in der Darstellung im Internet. Da fehlt einfach der direkte Kontakt zur Welt und zum Menschen. Und das bietet das Pilgern an", sagt Raimund Joos. Der Mann weiß, wovon er redet, denn der Jakobsweg ist sein Leben. Er wohnt nicht nur am ostbayerischen Jakobsweg in Eichstätt, sondern mindestens dreimal jährlich ist er auch selbst auf der mit dem Emblem einer Muschel gekennzeichneten Strecke Richtung Santiago de Compostela unterwegs - als Pilger, Pilger-Begleiter oder Reisebuch-Autor. Mehr als zwei Drittel der Fachliteratur über den Jakobsweg floss aus seiner Feder.

Sich vom Acker machen

Muschelmotiv in Mauer als Zeichen des Jakobswegs.
Das Muschel-Motiv markiert den Verlauf des JakobswegsBild: Fred Brodina

Das Pilgern sei den Menschen in die Wiege gelegt, ist Joos überzeugt. "Das ist ganz tief im Menschen drin, dass er über seinen Horizont hinaus möchte." Das beinhalte auch die Herkunft des Begriffs: "Pilgern heißt ja eigentlich 'fern des Ackers'. Man hatte früher die abgegrenzte Welt des Dorfes, die Sicherheit gegeben hat. Um das Dorf herum war der Acker. Und dann kam der Wald, wo die Welt zu Ende war." Wer über den Acker hinausgegangen sei, habe sich zwar in Unsicherheit begeben, zugleich jedoch neuen Horizonten zugewandt. Deshalb sei Pilgern an sich überreligiös. Allerdings seien es die großen Gestalten der jüdischen und christlichen Kultur - Abraham, Mose oder Jesus - die als Vorbilder für das spätere Pilgern in der christlichen Tradition dienten.

Pilgern in Deutschland

Dass sich auch in Deutschland zunehmend Pilgerwege füllen, beobachtet Oliver Gußmann, Touristenpfarrer in Rothenburg ob der Tauber. Dabei seien die Motive zu Pilgern völlig verschieden: Suche nach Antworten auf Sinnfragen, Nachdenken, um das persönliche Leben zu ordnen, die Suche nach Gott oder schlicht nur, den Kopf frei bekommen wollen.

"Im Moment kann man sagen, dass der Trend dahin geht, dass viele Leute einfach Entschleunigung von ihrem stressigen Alltag suchen, um zu sich selbst zu kommen", sagt der promovierte Theologe. Viele nähmen sich dann vor, auf einem der bayerischen Pilgerwege einige Etappen zu machen, von denen etliche zugleich Bestandteil des Jakobsweges sind. Das seien aber längst nicht mehr nur christlich motivierte Pilger, sondern auch moderne Wanderer und Touristen. Es passiere aber erstaunlich oft, dass Menschen, die zuvor als Wanderer gestartet seien, als Pilger nach Hause zurückkehrten.

Foto von Dr. Oliver Gußmann neben Statue.
Oliver Gußmann neben der Statue des Heiligen Jakobus in RothenburgBild: Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern/Pfarrer Dr. Oliver Gußmann

Neues bayerisches Pilgerzentrum

Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern hat auf den Pilgerboom reagiert und 2015 in Nürnberg ein einzigartiges Pilgerzentrum gegründet. Dieses hat zunächst ganz profane Aufgaben. Es informiert darüber, welche Pilgerwege es gibt und was unbedingt in einen Pilgerrucksack hinein gehört. Außerdem stellt das Zentrum Pilgerausweise aus.

Viel wichtiger aber sei, so Pfarrer Oliver Gußmann, der zugleich Referent seiner Landeskirche für das Pilgern ist, dass das Zentrum auf die wichtigen Bedürfnisse interessierter Menschen ausgerichtet sei - etwa solchen, die sich in Lebensübergängen befänden: "Man hat festgestellt, dass gerade Leute, die in persönlichen Umbruch-Situationen sind - sei es, dass jemand gestorben ist, sei es, dass die Kinder aus dem Haus sind, sei es, dass die Berufswahl ansteht, Arbeitslosigkeit oder der Ruhestand - gerne zum Nachdenken und zur Selbstfindung auf einen Pilgerweg gehen. Und dann gibt es da Pilgerbegleiter, die für Gespräche zur Verfügung stehen, um Anstöße zu geben, die richtigen Entscheidungen zu treffen." Gewissermaßen Begleitung für Geist und Seele.

An Bedarf und Themen orientiert

Unter dem Dach des Pilgerzentrums böten zudem die Johanniter das Projekt "Lacrima" an, berichtet Gussmann, eine Trauerbegleitung speziell für Kinder, die einen Elternteil, Bruder oder Schwester durch Tod verloren haben. Es gebe unter den thematischen Pilger-Angeboten auch solche für Menschen, die Entschleunigung suchen. "Denen bieten wir einen Weg der Stille an". Für Menschen, die aus medizinischen Gründen nicht zu Fuß unterwegs sein können, bestehe inzwischen die Möglichkeit mit Fahrrädern oder E-Bikes auf Radpilgerwegen unterwegs zu sein, so der Pfarrer.

Fahrrad neben einer Markierung des Jaokobs-Weges.
Alternative: Pilgern mit DrahteselBild: Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern/Pfarrer Dr. Oliver Gußmann

Neben den Hauptwegen wirbt das evangelische Pilgerzentrum auch für regionale Meditationswege. Das sind Rundwege, die ein bestimmtes Thema haben. Die Spiritualität der Wege ergebe sich durch die Kirchen, die Orte, die jeweilige Landschaft oder auch durch Wegkreuze und Tafeln mit einem Spruch, der zum Nachdenken anregt. In jedem Fall freut es den Pfarrer und sein Team, wenn auf solche Weise Menschen eine neue Tiefe in ihrem Leben erfahren, die auch zu positiven Veränderungen im Alltag führen.

Das Geheimnis des Pilgerns

Allerdings stünden sich die Pilger immer häufiger selbst im Weg, wenn es darum gehe, die Geheimnisse des Pilgerns zu entdecken und persönlich zu erfahren, sagt Profi-Pilger Raimund Joos: "Eines dieser Geheimnisse des Pilgerns liegt im Loslassen, dass man sich einfach auf etwas Neues einlässt."

Bild der Kathedrale von Santiago de Compostela.
Ziel der Pilger: die Kathedrale von Santiago de CompostelaBild: Dr. Raimund Joos

Lange Zeit sei auf dem Jakobsweg das Aussteigen aus dem Alltagstrott, für eine Weile einfach zu leben, in der Natur zu sein, den Horizont zu erweitern, fast schon garantiert gewesen. Inzwischen sei aber "immer mehr von der modernen Welt" auf den Jakobsweg gekommen. So habe besonders auf dem Camino Francés inzwischen fast jede Herberge WLAN. "Da sitzen dann die Pilger mit dem Smartphone, schauen sich die Nachrichten aus aller Welt an, checken ihre E-Mails wie immer und kommunizieren mit ihren Freunden daheim - aber nicht mehr mit den anderen Pilgern. Sie sind eigentlich mit den Füßen auf dem Weg, aber mit dem Kopf im Alltag."

Aus diesem Grund, mahnt Joos, müsse sich ein Pilger heute sehr bewusst dafür entscheiden, den Jakobsweg als das wahrzunehmen, was er eigentlich sein sollte - nämlich ein Ort, wo man loslässt: "Die Tendenz ist tatsächlich, dass es immer stressiger wird auf dem Weg, der eigentlich das Gegenteil bewirken soll." Ob sich dessen viele von denen bewusst sind, die sich in den nächsten Wochen und Monaten aufmachen, bleibt fraglich.