1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Schwarzes Jahr

Christoph Hasselbach26. Dezember 2014

Spaltungen, Euroskepsis und Selbstzweifel haben das Jahr der Europäischen Union geprägt. Doch ausgerechnet die Konfrontation mit Russland könnte neue Einigkeit bringen.

https://p.dw.com/p/1Due3
EU-Flaggen vor dunklen Wolken Foto: dapd
Bild: dapd

Es war eine politische Katastrophe mit Ansage: Lange hatte die Unzufriedenheit gebrodelt, bei der Europawahl im Mai entlud sie sich. Fast überall konnten sich europaskeptische bis offen EU-feindliche und rechtspopulistische Parteien über starke Stimmengewinne freuen. In Frankreich, Großbritannien und Dänemark gingen sie sogar als Sieger aus der Wahl hervor. Ihr Programm: Weniger Europa, mehr Nation. Der französische Front National will aus der Währungsunion austreten und den Franc wiedereinführen, die britische Unabhängigkeitspartei (UKIP) will das Land sogar ganz aus der EU führen. Allen gemeinsam ist auch, dass sie weniger Einwanderer wollen. Sogar innerhalb der EU soll die Personenfreizügigkeit eingeschränkt werden, wenn es nach diesen Parteien geht.

Sprachrohr der Enttäuschten

Auch wenn die EU-Skeptiker im Europaparlament oft Mühe haben, eine einheitliche Linie zu finden und eine große rechte Fraktion gescheitert ist, bestimmen sie die Agenda nun deutlich mit. Das Thema Migration zum Beispiel spaltet im Jahr 2014 die EU mehr als je zuvor. Menschenrechtsgruppen und der Papst werben bei den Europäern darum, mehr Flüchtlinge aus den Bürgerkriegsgebieten des Mittleren Ostens und Nordafrikas aufzunehmen. Doch "Das Boot ist voll" ist ein verbreitetes Gefühl, und es wird mit angefacht von den Rechtspopulisten. Sie sind auch das Sprachrohr derer, die die EU für einen abgehobenen Haufen Bürokraten halten, die sich angeblich nicht um die Sorgen der Bürger scheren. Janis Emmanouilidis von der Brüsseler Denkfabrik European Policy Centre glaubt, dass "die Eurokrise ein zentraler Faktor war, zumindest ein Katalysator für das Gefühl, dass die EU weit weg ist oder sich umgekehrt zu sehr einmischt."

UKIP-Parteichef Nigel Farage mit Anhängern Foto: Reuters
In Großbritannien holte die UKIP unter Parteichef Nigel Farage die meisten Stimmen bei der Europawahl.Bild: Reuters

Ein britischer EU-Austritt wird denkbar

In keinem Land der EU war diese Unzufriedenheit 2014 so sichtbar wie in Großbritannien. Der konservative Premierminister David Cameron ist zum Getriebenen der UKIP geworden. Er fordert von der EU Reformen und wieder mehr Zuständigkeiten für die Einzelstaaten, sonst könne er nicht garantieren, dass die Briten bei einem Referendum für die weitere Mitgliedschaft stimmen würden. Inzwischen scheint ein britischer Austritt durchaus denkbar. Dabei ist das Vereinigte Königreich im September selbst knapp dem Zerfall entgangen: Die Schotten haben sich in einer Volksabstimmung mit nur etwa 55 zu 45 Prozent gegen eine Unabhängigkeit entschieden. Das Ergebnis war immerhin eindeutig genug, um anderen Abspaltungsbefürwortern in Europa, etwa in Katalonien oder Südtirol, ein wenig Wind aus den Segeln zu nehmen.

Die französische Malaise

Die Wirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit in vielen Ländern hat nicht nur extremen Parteien Auftrieb gegeben. Die Frage, wie sie bekämpft werden soll, spaltet Europa nach wie vor, wobei sich die Problemfälle ein wenig verschoben haben. Standen früher Griechenland, Irland, Portugal und Spanien im Mittelpunkt sorgenvoller Aufmerksamkeit, geht es in diesen Ländern inzwischen wieder langsam, in Irland sogar steil bergauf. Stattdessen kommen Italien und vor allem Frankreich nicht aus den Negativschlagzeilen heraus. Soll die Kommission hart bleiben und Frankreich zu mehr Einsparungen zwingen, oder soll sie Frankreich noch mehr Zeit für eine Konsolidierung geben, um politischen Extremismus in Form des Front National zu verhindern? Das war und ist eine Frage, die man sich in Brüssel ständig stellt. Janis Emmanouilidis sieht Frankreichs "Fähigkeit zu Strukturreformen eher schwach ausgeprägt" und hat deswegen Bedenken, dass das Land bald wieder auf die Beine kommt. Aber auch politisch durch die Stärke der Rechtsextremen gebe es bei Frankreich "sehr viele Fragezeichen".

Arbeitslose sitzen am Straßenrand Foto: picture-alliance/dpa
In Frankreich verharrt die Arbeitslosigkeit auf Rekordniveau.Bild: picture-alliance/dpa

Angeschlagener Juncker

Wobei das französische Problem noch eine zusätzliche Pointe hat: Der Mann in der neuen Kommission, der auf Einhaltung der Stabilitätskriterien drängen muss, ist der frühere französische Finanzminister und heutige EU-Währungskommissar Pierre Moscovici. Als Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ihn im September für das Ressort benannte, sprachen viele von einem Bock, der zum Gärtner gemacht worden sei. Doch nicht nur bei ihm. Auch bei anderen Kommissaren war der Unmut über angeblich fehlende Eignung, Erfahrung oder über Interessenskonflikte groß. Trotzdem wurde die Kommission schließlich nach geringen Änderungen vom Parlament bestätigt. Allerdings geriet Juncker selbst im November in die Schusslinie, als bekannt wurde, dass sich große internationale Konzerne mit den luxemburgischen Behörden auf Niedrigststeuern geeinigt hatten in Zeiten, als Juncker luxemburgischer Regierungschef und Finanzminister war. Politisch hat er die Vorwürfe bisher überlebt, seine Glaubwürdigkeit scheint seitdem aber angeknackst.

Die alte Ordnung ist zerbrochen

Doch wenn es in Europa 2014 eine Krise gab, die alles überschattete, dann die Konfrontation mit Russland. Russland hat im März die ukrainische Halbinsel Krim annektiert und destabilisiert seit Monaten auch die Ost-Ukraine. Eine Reihe von EU-Staaten im Osten, die früher zur Sowjetunion gehört haben, etwa die baltischen Staaten und Polen, befürchten seitdem, ebenfalls Opfer russischer Aggression zu werden. Die EU hat im Laufe des Jahres immer schärfere Sanktionen über Russland verhängt. Doch der Konflikt ist alles andere als gelöst, am Ende des Jahres scheint eine Rückkehr zu alter Partnerschaft mit Russland weiter entfernt denn je. Große Unsicherheit hat sich ausgebreitet: Die friedliche europäische Ordnung, wie sie seit dem Ende des Kalten Krieges bestanden hatte, ist zerbrochen, und niemand weiß, wie es weitergehen wird.

Russische Panzer Foto: picture-alliance/dpa/S. Chirikov
Russische Panzer sind in Europa wieder eine Bedrohung.Bild: picture-alliance/dpa/S. Chirikov

Zusammenhalt in der Not

Doch immerhin hat diese bittere Erfahrung die Europäer auch gelehrt, wie wichtig ihnen Zusammenhalt ist: In der Auseinandersetzung mit Russland hat sich die EU so geschlossen wie selten zuvor gezeigt. "Wir sehen", so Janis Emmanouilidis, "dass die 28 Mitgliedsländer der EU, die teilweise sehr unterschiedliche Positionen und unterschiedliche Traditionen in ihren Beziehungen zu Moskau haben, in der Lage waren und sind, eine gemeinsame Haltung zu haben." Durch Russland habe die EU "die Reihen geschlossen". Die Frage sei nun, wie lang der Atem der Europäer gegenüber Moskau sei. Doch über Russland hinaus habe die schwere Krise "die gemeinsame Erzählung über Europa gestärkt, dass man gemeinsam stärker ist", als wenn jeder allein dasteht. Lange schien diese Binsenweisheit in der EU vergessen, die Erfahrungen von 2014 haben sie neu in Erinnerung gerufen.