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Massenflucht der Kurden

Birgit Svensson10. Februar 2016

Im kurdischen Nordirak laufen die Menschen massenweise davon. Aus Angst vor dem IS und weil die Wirtschaft am Boden liegt. Auch die Integration der Rückkehrer aus Europa ist gescheitert. Von Birgit Svensson, Erbil.

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Symbolbild - Syrien
Bild: Getty Images/S. Platt

In kurdischen Irak macht sich zunehmend Verzweiflung breit. Die Boomjahre, als Häuser förmlich in den Himmel schossen, sind vorbei. Die autonome Region Iraks rutscht immer tiefer in die Krise. "Es geht schlecht", antworten die Händler auf dem Basar in der Kurdenmetropole Erbil. "So schlecht wie noch nie". Eigentlich will jeder nur noch weg. Habib will nach Bayern zurück, wo er neun Jahre lang gelebt hat, bevor er 2011 in seine Heimat zurückkehrte. Jetzt tauscht er Euro gegen Dollars oder irakische Dinar, handelt mit Feuerzeugen und islamischen Gebetsketten.

Marwan verkauft Datteln, Granatäpfel und Weintrauben und würde lieber wieder in der Pizzeria in Berlin-Neukölln arbeiten. Fauwzi träumt von seiner Wohnung in Duisburg, die er aufgegeben hatte, nachdem seine Familie keine Ruhe gab und ihn überredete nach Erbil zurückzukehren. Die Miete für seinen Laden in den mit gelbem Backstein neu gestalteten Arkaden kann er kaum noch bezahlen. "Niemand hat Geld, keiner kauft etwas." Einige Geschäfte mussten bereits schließen. Die Besitzer sind entweder geflohen oder pleite.

Verkäufer vor einem Gewürzstand in Erbil
In Erbil warten die Händler meist umsonst auf KundschaftBild: DW/B. Svensson

Schülerzahl schrumpft rasant

Bei der Mitgliederversammlung des Schulvereins der Deutschen Schule in Erbil wird der Trend noch deutlicher. Die einzige deutsche Schule im Irak verzeichnet für das laufende Schuljahr einen Rückgang der Schülerzahl um 34 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Schätzungen zufolge haben allein in den letzten sechs Monaten 35.000 Kurden den Irak Richtung Europa verlassen - und der Trend hält an. Selbst der Oberbürgermeister von Erbil, Nihad Latif Qoja, geht nach zehn Jahren Amtszeit wieder zurück nach Bonn.

Nach dem Ende des zweiten Irakkriegs zog es tausende Kurden aus dem europäischen Exil in ihre Heimat. Vor allem aus Deutschland setzte bis 2011ein regelrechter Rückkehrerboom ein. Mit schätzungsweise einer halben Million irakischer Kurden verzeichnete die Bundesrepublik die größte kurdische Gemeinde in der Diaspora. Wer freiwillig in den Irak zurück ging, bekam Geld und ein Freiflugticket nach Erbil, was die Heimreise noch verlockender machte. Doch viele von den Rückkehrern bereuen diesen Schritt jetzt zutiefst und versuchen wieder nach Europa zu gelangen. Der kurdische Fernsehsender KNN berichtete erst letzte Woche, dass in der Ägäis ein Boot mit Flüchtlingen aus Kurdistan gesunken sei. 30 von ihnen sind ertrunken. Alle aus Suleimanija, der zweitgrößten Stadt im irakischen Kurdengebiet.

Widerstand gegen Misswirtschaft

Ausgerechnet aus Suleimanija. Die Stadt zählt eigentlich zu den sichersten Städten Iraks. Sie liegt rund 200 Kilometer vom Einflussgebiet des sogenannten Islamischen Staates (IS) entfernt, in Grenznähe zum Iran. Suleimanija gilt als Kultur- und Bildungszentrum Kurdistans. Vom Angriff der Terrormiliz auf die Kurdengebiete im August 2014 hatten die 1,6 Millionen Einwohner nur von Verwandten oder Freunden aus Erbil gehört oder aus den Medien erfahren. Lediglich zwei Lager für Binnenflüchtlinge am Stadtrand spiegeln die Wirklichkeit Restiraks wider. Und doch geht von Suleimanija das aus, was jetzt überall in Kurdistan um sich greift: der Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse.

Vor allem junge Kurden klagen darüber, keine Arbeit und keine Zukunft in der Region zu haben. Als sie zu Beginn des arabischen Frühlings 2011 auf die Straße gingen, um gegen Misswirtschaft und Korruption der kurdischen Regionalregierung und für mehr Demokratie und ein parlamentarisches System zu demonstrieren, wurden die Proteste gewaltsam niedergeschlagen. Fünf Menschen kamen ums Leben. Kurdenpräsident Masoud Barzani machte die Oppositionspartei Goran, die in Suleimanija entstand, dafür verantwortlich. Er warf ihre Mitglieder kurzerhand aus der Regierung, verbot dem Parlamentspräsidenten die Einreise nach Erbil und stellte die Abgeordneten kalt.

Junge Kurden, die Steine werfen. In der Mitte der Straße brennt ein Feuer.
Proteste junger Kurden im Oktober 2015Bild: picture-alliance/AA/F. Ferec

Regionalregierung praktisch pleite

Seit Sommer letzten Jahres ist Barzanis Amtszeit offiziell zu Ende. Die Volksvertreter müssten eigentlich verfassungsgemäß einen neuen Präsidenten wählen. Doch davon ist keine Rede mehr. Die sich gerne als Vorreiter einer demokratischen Entwicklung gebenden irakischen Kurden fallen in archaisch autoritäre Strukturen zurück. Hinzu kommt eine massive Wirtschaftskrise. Seit fünf Monaten werden die Gehälter der Staatsbediensteten nicht mehr bezahlt - mehr als 70 Prozent der Kurden in den drei Provinzen Erbil, Dohuk und Suleimanija sind aber Staatsangestellte. Die Folge sind leere Geschäfte, Restaurants und Hotels.

In den üppig ausgestatteten Einkaufstempeln fehlen die Kunden. Stromausfälle sind die Regel. Infrastrukturprojekte liegen auf Eis, ausländische Ölfirmen haben die Region verlassen, weil sie nicht mehr bezahlt werden. Ein tiefgründiger Streit zwischen der kurdischen Regionalregierung und der Zentralregierung in Bagdad stoppt die Transferzahlungen. Allein kann sich die Region aber nicht finanzieren. Zumal der Kampf gegen den IS und die Versorgung der vielen Flüchtlinge das Budget extrem belasten.

Vorwürfe gegen Deutschland-Rückkehrer

"Die Kurden fallen nicht in die archaischen Strukturen des Zweistromlandes zurück. Sie haben diese eigentlich nie verlassen", drückt Khoshawe Farag seine pessimistische Sicht auf die derzeitige Misere aus. Der Politikdozent an der Universität Suleimanija ist vor sechs Jahren aus Stuttgart nach Kurdistan zurückgekehrt. "Wir hatten voller Elan beim Aufbau unserer Region und der Modernisierung unserer Gesellschaft geholfen", sagt er. Seine Frau und die drei Töchter nicken zustimmend. Jetzt sitzt die Familie auf dem Sofa ihrer Vierzimmer-Wohnung in einem Neubauviertel Suleimanijas und denkt über eine erneute Flucht nach Deutschland nach.

Auch weil sie die kurdische Gesellschaft nicht richtig integrierte. Von Anfang an habe sie eine große Ablehnung gespürt, erinnert sich die älteste Tochter an ihre ersten Eindrücke nach ihrer Rückkehr in das für sie damals fast unbekannte Kurdistan. Yarivan war drei Jahre alt, als die Eltern sich entschieden, den Irak zu verlassen. Sie war 15, als sie zurückkamen. "Wir galten als Konkurrenz, die es abzuwehren galt." Zuweilen hätten die Einheimischen auch offen ausgesprochen, was sie über die Rückkehrer dachten: "Ihr habt euch ein schönes Leben in Europa gemacht. Wir haben gegen Saddam Hussein gekämpft und jetzt kommt ihr zurück und wollt mitbestimmen."

Familie Farag: Tochter Yarivan und Vater Khoshawe sitzen auf einer Couch.
Familie Farag: Tochter Yarivan und Vater Khoshawe in SuleimanijaBild: DW/B. Svensson

"Eine regelrechte Gehirnwäsche"

Solche Vorbehalte sind auch in den Schulen zu beobachten. Dort haben sich zwei Fraktionen gebildet: Rückkehrer und Alteingesessene. Unterschiedliche Weltanschauungen prallen dort aufeinander. Yarivan musste lernen, dass vieles was in Deutschland zur Normalität gehört, in ihrer Heimat verboten ist. So sind Fahrradfahren und Schwimmen für Mädchen ein Tabu. Über Rocklängen wird endlos diskutiert. Ebenso über Make-Up, das Kopftuch und dass sich Mädchen und Jungen nicht zusammen sehen lassen sollten. "Es ist eine regelrechte Gehirnwäsche", fasst Yarivan ihre Eindrücke zusammen. Möglicherweise hat der Islamismus in den irakischen Kurdengebieten auch aus Widerstand gegen die laizistisch erzogenen Rückkehrer an Einfluss gewonnen.