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Politik

Angemessener Umgang mit Geschichte?

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Miodrag Soric
5. November 2017

Die Oktoberrevolution hat so nie stattgefunden und war von Anfang an eine Lüge. Doch auch die Machthaber im Russland von heute scheuen die Wahrheit und fügen den alten nunmehr eine neue Lüge hinzu, meint Miodrag Soric.

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Bild: Reuters/P. Rebrov

Frei nach Augustinus ist es besser mit der Wahrheit zu fallen, als mit der Lüge zu siegen. Lenins Lüge vom Kommunismus, vom angeblich besseren Leben der Bauern, Arbeiter und Intellektuellen siegte im Herbst 1917. Letztlich aber erwiesen sich alle Verheißungen nur als leere Versprechen. Der Marxismus-Leninismus wurde zum "Opium fürs Volk", rechtfertigte Mord, Raub und zahllose andere Verbrechen im Namen einer Ideologie. Die kommunistischen Führer zerstörten das normale Leben von vielen Generationen. Sie töteten Abermillionen von Menschen, sorgten für die größte Christenverfolgung der Geschichte. Die sogenannte Oktoberrevolution war eine Katastrophe, die das gesamte 20. Jahrhundert prägte.

Legendenbildung der bolschewistischen Historiographen

Nun hatten bolschewistische Historiographen viel Zeit, um die Oktoberrevolution auszuschmücken zu einem Ereignis, das so nie stattfand: ein angeblicher Aufstand der Massen gegen die provisorische Regierung. In Wirklichkeit gingen am 7. November 1917 wohlhabende Sankt Petersburger ins Theater, wo Fjodor Schaljapin sang. Andere standen Schlange vor Geschäften, die Mehl oder Zucker zu überteuerten Preisen verkaufen. Die einfachen Russen waren in der Endphase des Ersten Weltkriegs mit dem tagtäglichen Überleben beschäftigt. Was immer sie an diesem Tag taten: Die Mehrheit war kriegsmüde, enttäuscht von der Politik, wollte aber von den Bolschewiken nichts wissen. Trotzki und Lenin hatten indessen den unbedingten Willen zur Macht. Gleichzeitig verteidigte niemand die provisorische Regierung - eine wehrlose Demokratie! Und so nahm das Unheil seinen Lauf.

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Miodrag Soric ist DW-Korrespondent in Moskau

Heute stellt sich die Frage: Wie geht die jetzige russische Regierung mit dieser Katastrophe um? Der Kreml wirkt hilflos, irritiert, handelt widersprüchlich. Was nicht verwundert. Denn der Machtapparat in Moskau - so wie der in Kiew oder Minsk - ist bis heute geprägt von der sowjetischen Zeit. Dort entscheiden Menschen, die im Kommunismus erzogen wurden. Sie wuchsen auf mit den Mythen und Lügen der roten Propaganda.

Leider fehlt heute Russland eine moralische Autorität vom Rang eines Alexander Solschenizyn oder Andrej Sacharow. Jemand, der ohne Wenn und Aber Lenins Berufsrevolutionäre als das bezeichnet, was sie in Wirklichkeit waren: Fanatiker, rachsüchtige Kriminelle, Diebe, Mörder. Stattdessen werden ihre Untaten verharmlost.

100 Jahre später eine neue Lüge

Bezeichnend ist eine Veranstaltung, die am 7. November in Sankt Petersburg stattfindet: Es werden Gedichte der "Roten" und der  Zaren-treuen "Weißen" verlesen. Damit nach dem Willen der Organisatoren am Ende deutlich wird: Auf beiden Seiten des russischen Bürgerkrieges (mit fünf Millionen Toten) haben "Patrioten" gekämpft. Präsident Putin soll so als der große Versöhner des russischen Volkes erscheinen. Politisch mag das nachvollziehbar sein. Denn Putins Mantra lautet: Stabilität. Letztlich aber trägt der Kreml dazu bei, 100 Jahre danach eine weitere Lüge über die Oktoberrevolution in die Welt zu setzen: Lenin, Trotzki und Stalin waren eben keine Patrioten.

Der Reformator Martin Luther wusste schon vor 500 Jahren über die Lüge, dass sie wie ein Schneeball ist: Je länger man ihn wälzt, desto größer wird er. Um im Bild zu bleiben und eine Prise Pathos hinzuzufügen: Nur die "Sonne der Wahrheit" kann den "kommunistischen Schneeball" zum Schmelzen bringen. Im Klartext: Hoffentlich werden zukünftige Generationen in Russland mehr Mut zur historischen Wahrheit haben als die jetzige. Dann wird es auch in Russland einen angemessenen Umgang mit diesem schrecklichen Ereignis vor genau 100 Jahren geben.

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