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Politik

China will den gläsernen Bürger

4. Januar 2018

China strebt die totale Überwachung seiner Bürger mit einem umfassenden Social Credit System an. Die Regierung sieht darin ein Allheilmittel für wirtschaftliche und gesellschaftliche Missstände. Datenschutz? Fehlanzeige!

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China Überwachungskameras
Bild: picture-alliance/Imagechina/L. Shanxin

Sind Sie ein guter Mensch? Sollten Sie sich nicht ganz sicher sein, wird Ihnen in China bald geholfen. Die Regierung dort plant die Einführung eines umfassenden Social Credit Systems. Es soll deutlich mehr als die Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung (Schufa) in Deutschland sein, eine Art Super-Schufa, die neben der Kreditwürdigkeit der Bürger auch deren soziales Verhalten erfasst und bewertet.

Wer beispielsweise seine alten Eltern nicht regelmäßig besucht, erhält Minuspunkte. Das gleiche gilt für Personen, die bei Rot die Straße überqueren oder ihren Müll illegal entsorgen. Wer einer gerichtlichen Anordnung nicht nachkommt, verpasst die zentralchinesische Provinzhauptstadt Zhengzhou zwangsweise ein neues Freizeichen, das ihn beim Abheben des Telefonhörers an seine Verfehlungen erinnert.

Das sind nur drei Beispiele von aktuell mindestens 40 verschiedenen Experimenten, die die chinesische Regierung zumeist auf der kommunalen Ebene durchführen lässt, um herauszufinden, wie sich landesweit das geplante Social Credit System am besten umsetzen lässt. Und wer mit dem Auto auf Chinas Schnellstraßen unterwegs ist, wundert sich schon lange nicht mehr, dass er in regelmäßigen Abständen von Überwachungskameras gefilmt wird.

VPNs in China
Chinas Internet wird massiv überwacht und zensiert. Ende 2016 wurde das Anbieten von Software zur Herstellung von VPN-Tunneln verbotenBild: picture-alliance/dpa/epa/H. H. Young

Datenkrake

Für das staatliche Social Credit System werden sowohl bestehende Daten von Einwohnermeldeämtern oder Schulbehörden miteinander vernetzt, aber auch Kundenbewertungen aus Apps und das Surfverhalten im Internet. Auch automatisch generierten Daten etwa durch Überwachungskameras mit Hilfe von Gesichtserkennung werden genutzt. "So wie das System aktuell angedacht ist, handelt es sich um ein weitreichendes Projekt, das fast jeden Bereich des täglichen Lebens umfasst", schrieb das Berliner Mercator Insitut für China Studien (Merics) in einer Studie vom Dezember 2017.

Der Beschluss für die Einführung eines solchen Systems fiel 2014. Seither sei der Ausdruck "social credit" ein allgegenwärtiges politisches Schlagwort, wie Merics schreibt. Im Rahmen der Studie wurde auch deutlich, dass die chinesische Regierung das System als Allheilmittel anpreist. Es werde eine Vielzahl sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Probleme lösen, von der Kreditwürdigkeit der Marktteilnehmer über die Lebensmittelsicherheit bis hin zum Schutz geistigen Eigentums.

Keine öffentliche Debatte

Kritik gibt es kaum, wie Merics feststellt. "Keiner stellt den Nutzen eines solchen Systems grundsätzlich infrage." Allenfalls technologische Schwierigkeiten bei der Bewältigung und Vernetzung der Daten werden diskutiert oder was passiert, wenn Daten in die Hände von privaten Unternehmen gelangen. 

Doch obwohl das Thema so dominant in den Medien vertreten sei, finde darüber keine öffentliche Diskussion statt, sagt Sinologe Björn Alpermann von der Universität Würzburg im Gespräch mit der Deutsche Welle. "Das System hat in der chinesischen Bevölkerung im Allgemeinen noch keinen sehr großen Bekanntheitsgrad erlangt." Die Mehrzahl der Leute glaubt, sie sei ohnehin nicht davon betroffen.

Öffentlicher Pranger

Zentraler Bestandteil des Systems ist die Bestrafung von vermeintlichen Missetätern und die Belohnung vorbildlicher Bürger. So dürfen schon heute "vertrauensunwürdige Personen" keine Tickets für Flüge und Hochgeschwindigkeitszüge buchen oder ihre Kinder auf Privatschulen schicken. Einen Vorgeschmack gab das privat betriebene Kredit-Scoring-System Sesam Credit. 2016 blockierte die Tochtergesellschaft der Alibaba Group von Jack Ma etwa 7,3 Millionen Flugbuchungen von Personen mit schlechter Bewertung. Experimentiert wird auch mit Steuervorteilen für vorbildliche Bürger oder vereinfachten Zoll-Einfuhrgenehmigungen für vertrauenswürdige Unternehmer.

Die Veröffentlichung der Daten ist dabei nicht nur gewollt, sondern wird von den staatlichen Stellen gefeiert, sagt Merics. "Öffentliches Bloßstellen durch die Veröffentlichung der Namen, Fotos, der Personalausweisnummer und in manchen Fällen sogar der Adresse ist integraler Bestandteil des Systems." So preisen staatliche Stellen das System auch für die Partnersuche via Internet an. Ein Blick auf das Rating mache sofort klar, ob der oder die Zukünftige ein verlässlicher Partner sei.

China Abiturprüfung Gaokao
Die Abiturprüfung (Gaokao) ist in China sehr entscheidend für den weiteren Lebensweg. Das "Social Credit System" prüft die Bestrafung von Schülern und Studenten über 18, die von ihrem Nachbarn abschreiben, plagiieren oder täuschen.Bild: Reuters

Kontrolle statt Vertrauen

Für viele im Westen ist das fast grenzenlose Vertrauen in den Staat irritierend. "Ein Problem ist, dass man überhaupt nicht weiß, nach welchem Algorithmus und nach welchen Kriterien bzw. mit welchen Gewichtungen die Bewertungen zusammengestellt werden. Das Ganze ist intransparent", sagt Alpermann.

Auch beweise die Initiative, dass die chinesische Gesellschaft ein Problem mit Glaubwürdigkeit und Vertrauen habe. "Und zwar sowohl Vertrauen der Bürger untereinander, als auch von Wirtschaftsakteuren gegenüber den Bürgern, aber auch von Regierung gegenüber den Bürgern und umgekehrt."

Implementierung ab 2020

"Die Frage ist nicht, ob das System kommt, sondern nur, wie es letztendlich ausgestaltet werden wird", sind die Autoren der Merics-Studie Mareike Ohlberg, Shazeda Ahmed und Bertram Lang sicher. Bis 2020 laufen die verschiedenen Experimente weiter, neue kommen wahrscheinlich hinzu. Dann wird es eine Evaluation geben. Alpermann glaubt aber, dass eine landesweite Umsetzung sicher noch einige Jahre benötigen werde, insbesondere da ein solches System enorme Investitionen voraussetze.

Wenn es aber einmal soweit sei, dann könnte das nahezu totale Überwachungssystem zum Exportschlager werden, gibt Alpermann zu bedenken. "Es wäre vorstellbar, dass die chinesische Regierung irgendwann die Technologie, die hinter diesem Projekt steckt, an andere autoritäre Regime verkauft." Zuletzt hatte Präsident Xi Jinping keine Gelegenheit ausgelassen, um das chinesische Modell als zukunftsweisende Alternative international anzupreisen.

Mitarbeit: Yue Fu

Rodion Ebbinghausen DW Mitarbeiterfoto
Rodion Ebbighausen Redakteur der Programs for Asia