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Pilgern - Neues entdecken durch Langsamkeit

1. April 2018

Immer mehr Zeitgenossen sind fasziniert vom Pilgern. Seit mehr als 25 Jahren ist Raimund Joos auf dem Jakobsweg unterwegs. Der Profi weiß viel zu erzählen über die Geheimnisse des Weitwanderns mit allen Sinnen.

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Camino de  Santiago | Pilgern auf dem Jakobsweg - Dr. Raimund Joos
Bild: Dr. Raimund Joos

DW: Herr Joos, weshalb pilgern heute Menschen?

Dr. Raimund Joos: Das ist vor allem der Wunsch nach einem authentischen, also direkten Einlassen auf die Welt, auf ein ganz direktes Erleben. Wir haben immer mehr virtuelle Welten, immer mehr, was nicht mehr original ist, immer mehr Kopien auch in der Darstellung im Internet. Da fehlt einfach der direkte Kontakt zur Welt und zum Menschen. Und das bietet das Pilgern an, da ist man geerdet. Mit jedem Schritt merkt man dieses Geerdet-Sein.

Seit wann gibt es das Pilgern überhaupt?

Ich behaupte mal, das gibt es schon solange es Menschen gibt. Das ist ganz tief im Menschen drin, dass er über seinen Horizont hinaus möchte. Das findet man schon in der ältesten Literatur. Das Pilgern ist auch überreligiös. Es beginnt immer mit dem Sich-Aufmachen, mit dem Aufbrechen. In diesem Sinne, meine ich, waren Abraham, Mose oder Jesus auch Pilger. Jesus wanderte zuerst in die Wüste und begann danach sein öffentliches Wirken. Da wird etwas Altes aufgebrochen und heraus kommt etwas Neues. Das ist der Kern des Pilgerns und das macht hoffentlich auch das heutige Pilgern aus.

Pilger auf dem Weg von Gonzar nach Palas de Rei.
Besonders der Jakobsweg ist bei Pilgern beliebt Bild: picture-alliance/blickwinkel/M. Vahlsing

Pilgern war also in seinen Anfängen eine Reise ins Fremde und Ungewisse. Was war denn bis zum Mittelalter die Intention einer Pilgerreise?

Pilgern heißt ja eigentlich "fern des Ackers". Man hatte früher die abgegrenzte Welt des Dorfes, die Sicherheit gegeben hat. Um das Dorf herum war der Acker. Und dann kam der Wald, wo die Welt zu Ende war. Und wer über den Acker hinausgegangen ist, hat sich in Unsicherheit begeben. Dieses Sich-vom-Acker-machen praktizierten etwa frühchristliche Mönche. Die sind in die Ferne gegangen, um in die Ferne zu gehen. Es ging also nicht darum, irgendwo anzukommen. Es gibt teilweise heute noch Pilgerwege, die Rundwege sind.

Im Mittelalter änderte sich die Form des Pilgerns. Das Pilgern war zwar eine Reise ins Fremde und Ungewisse, aber man suchte jetzt meistens bestimmte Orte auf, wie Jerusalem, Rom oder das Grab des heiligen Jakobus in Santiago de Compostela. Warum diese Zielsetzungen?

Ein Pilger steht vor der Kathedrale von Santiago de Compostela.
Wer sie sieht, ist am Ziel des Jakobswegs angekommen: die Kathedrale von Santiago de CompostelaBild: picture-alliance/dpa/G. Bergmann

Ja, später kam dann dieses Pilgern im Sinne von Wallfahren auf, um an einem bestimmten Ort besonderes Heil oder auch Heilung zu erfahren. Die Begriffe Pilgern und Wallfahren werden sehr oft vermischt und ganz trennen lassen sie sich auch nicht. Wer zum Beispiel nach Santiago de Compostela pilgerte, hatte zwar ein bestimmtes Ziel, aber es war dennoch für die Menschen ein Risiko auf dem Jakobsweg zu pilgern. Im Grunde waren sie aber auch Wallfahrer. Die frühen Christen kannten noch keine Pilgerorte. Erst später, als sich die Institution Kirche etabliert hatte und es großartige Kathedralen und besondere Orte gab, wurde dieses Wallfahren moderner.

Wallfahrten wurden schließlich unternommen, um beispielsweise ein Gelübde zu erfüllen oder einen Ablass von Sündenstrafen zu bekommen. Hinter letzterem stand ein falsches christliches Leistungsdenken: Wenn ich mich anstrenge, bekomme ich Gottes Vergebung. Dann trat 1517 der Reformator Martin Luther auf den Plan. Er sagte, Gottes Gnade bekommt ein Mensch allein aus dem Glauben an Gott und nicht wegen eigener Anstrengung und Verdienste. Luther nannte das Pilgern ein "Narrenwerk".

Luther hatte natürlich recht mit seiner Kritik an der Kirche: Göttliches Heil kann nicht durch Geld oder Leistung "erkauft" und auch nicht "erpilgert" werden. Ich meine aber auch, wir müssen uns heute davor hüten, dass dieses Denken in unserer Leistungsgesellschaft nicht wieder durch die Hintertür aktuell wird. Es ist zum Beispiel so, dass die katholische Kirche in Santiago neuerdings Pilgerzeugnisse ausstellt, in denen amtlich bescheinigt wird, in welcher Zeit man wie viele Kilometer gepilgert ist und anhand von täglich zwei Stempeln im Pilgerpass prüft, ob die Leute auch wirklich alles abgelaufen sind. Dieses Denken ist mittelalterlich - nur modern verpackt.

Bild auf Landschaft bei Sonnenuntergang. DW Sendung Euromaxx 1200 Jahre Jakobsweg
In der Natur und fernab der technisierten Welt wollen einige Pilger zur Ruhe kommen und sich neu besinnen Bild: DW/A. Dluzak

Ende des 20. Jahrhunderts hat sich die Bedeutung des Pilgerns noch einmal gewandelt. Zwar wird es auch heute noch häufig aus religiösen Motiven unternommen, doch viele, die mitmachen, sehen darin vorrangig die Möglichkeit, dem hektischen Alltag zu entfliehen, sich zu besinnen. Welche Erfahrungen machen Sie als Profi-Pilger auf dem Jakobsweg?

Es war lange Zeit so, dass das Aussteigen aus dem Alltagstrott, einfach zu leben, in der Natur zu sein, den Horizont zu erweitern fast schon garantiert war. Wenn ich früher auf dem Jakobsweg unterwegs war, hatte ich bestenfalls mal in einer Bar einen Fernseher. Und da kamen nur spanische Nachrichten, die mich wenig interessiert habe oder man hatte in einer Bar ein Telefon, sodass man mal zuhause anrufen konnte. Heute ist es so, dass immer mehr von der modernen Welt auf den Jakobsweg kommt. Das kann man nicht vermeiden und das ist auch nicht zu verteufeln.

Welche Gefahr sehen Sie darin?

Ich sehe durchaus die Gefahr darin, dass man besonders auf dem Camino Francés in fast jeder Herberge WLAN hat. Und da sitzen dann die Pilger mit dem Smartphone, schauen sich die Nachrichten aus aller Welt an, checken ihre E-Mails und kommunizieren mit ihren Freunden daheim, aber nicht mehr mit den anderen Pilgern. Sie sind eigentlich mit den Füßen auf dem Weg, aber mit dem Kopf im Alltag. Deswegen muss man sich heute als Pilger sehr bewusst dafür entscheiden, den Jakobsweg so zu machen, wie er eigentlich sein sollte - nämlich als Ort, wo man loslassen kann. Die Tendenz ist tatsächlich, dass es immer stressiger wird auf dem Weg, der eigentlich das Gegenteil bewirken soll.

Gibt es ein Geheimnis des Pilgerns?

Das ist eben das Geheimnis, dass man Geheimnisse nicht so einfach beschreiben kann. Es kommen immer wieder Leute vom Jakobsweg zurück, die sagen, irgendwas ist da, eine Energie, ein Gefühl. Dieses Geheimnis - man muss einfach die Augen öffnen und sein Herz öffnen, dann wird man das unterwegs sehr oft spüren. Ich glaube, dieses Geheimnis des Pilgerns liegt im Loslassen, dass man sich einfach auf etwas Neues einlässt, mit der Welt Kontakt aufnimmt, Dinge an sich herankommen lässt, durch die Langsamkeit neue Entdeckungen macht.

Angela Merkel und Mariano Rajoy unterhalten sich auf dem Jakobsweg.
Austausch auf dem Jakobsweg: Bundeskanzlerin Angela Merkel und Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy 2014Bild: Reuters

Wie lange wirken solche Erfahrungen?

Diese Geheimnisse sind, wenn man einmal die Augen geöffnet hat, nicht nur auf dem Jakobsweg zu finden, sondern man trifft sie auch später im Alltag. Und dafür ist der Jakobsweg gut. Das soll ja kein losgelöster Hippie-Urlaub sein, auf dem man mal ausflippt. Es geht darum, das Spirituelle ernst zu nehmen, etwas für sich und die Welt zu lernen, was dann im Alltag nachhaltig ist.

Hat der Berufs-Pilger Raimund Joos einen Wunsch für die Entwicklung des Pilgerns?

Ich habe den Wunsch, dass das Pilgern wirklich etwas mit dem "fern des Ackers" sein zu tun behält, dass man das Pilgern wirklich als Herausforderung wahrnimmt. Meine Vision ist ein Weltfriedensweg, der die ganze Welt umspannt und der verschiedene Pilgerorte miteinander verbindet. Auf diesem Weltfriedensweg soll es eine Art Staffellauf geben, der symbolisiert, dass diese Welt zusammengehört und dass es ein Mensch, ein Land, eine Religion eben nicht alleine schaffen kann.

Mehr Frieden auf dieser Welt bedingt zunächst, mehr Frieden mit sich selbst zu schließen. Und da, meine ich, sind viele noch nicht so weit. Wenn man sich die Leute anschaut, die Unfrieden schaffen in der Welt, dann glaube ich, dass die zuerst in Unfrieden mit sich selbst sind. Denen würde der Jakobsweg gut tun.

Dr. Raimund Joos (*1968) lebt im bayerischen Eichstätt. Er studierte Pädagogik, katholische Theologie und etwas Spanisch. Seit 1992 pilgert er auf den Jakobswegen in Spanien, Frankreich, Portugal und Deutschland. 2004 machte er diese Leidenschaft zum Beruf. Joos ist als Reisebuchautor sowie Reise- und Seminarleiter für die Jakobswege aktiv.

Das Gespräch führte Klaus Krämer.