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75 Jahre "Der Kleine Prinz"

Bettina Baumann
5. April 2018

Antoine de Saint-Exupéry hat sich mit seinem "Kleinen Prinzen" in eine Phantasiewelt geflüchtet, sagt Joseph Hanimann. Für die meisten ist die Erzählung vor allem eins: ein Plädoyer für Menschlichkeit und Freundschaft.

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Verschiedensprachige Buchcover von "Der Kleine Prinz" von Antoine de Saint-Exupéry. (Eurolizenzen)
Bild: Eurolizenzen

Antoine de Saint-Exupérys Kleiner Prinz betrachtet die Welt mit den Augen eines Kindes und formuliert seine Erkenntnisse mit den Worten eines Weisen. "Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar" oder "Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast, sie macht deine Rose so wichtig" sind nur zwei von vielen berühmten Sätzen des sympathischen kleinen blonden Kerlchens von Asteroid B612.

In seiner märchenhaften Erzählung "Der Kleine Prinz", die erstmals am 6. April 1943 in New York auf Englisch und Französisch erschien, setzt sich Antoine de Saint-Exupéry mit essentiellen Themen seiner Zeit auseinander, die 75 Jahre später sogar aktueller denn je erscheinen: dem Werteverfall der modernen Gesellschaft, dem technischen Fortschritt, Konsum und Besitz, aber vor allem Freundschaft und Liebe. "Der Kleine Prinz" gilt als das Werk, in dem Saint-Exupéry sein Ideal von einer humanistischen Welt entwirft, und mit dem der Autor und Pilot seinen Weltruhm endgültig zementierte.  

Joseph Hanimann, Saint-Exupéry-Biograf, über den Menschen hinter dem Weltbestseller und die Frage nach dessen Erfolgsgeheimnis.

Deutsche Welle: Herr Hanimann, vor genau 75 Jahren kam "Der Kleine Prinz" auf den Buchmarkt. Können Sie sich noch daran erinnern, wie es war, als Sie das Buch zum ersten Mal gelesen haben?

Joseph Hanimann: Ich habe den "Kleinen Prinzen" zum ersten Mal als Kind gelesen. Ich muss sagen, damals habe ich ihn nicht richtig verstanden. Er war mir ein bisschen rätselhaft. Und das Rätselhafte ist eigentlich geblieben. Wahrscheinlich funktioniert er dadurch so gut.

"Der Kleine Prinz" soll ein Kinderbuch sein. Aber der Sinn ist gar nicht so leicht zu erfassen. Hat Antoine de Saint-Exupéry nicht eigentlich eher ein Buch für Erwachsene geschrieben?  

Es ist das, was man so oft sagt: ein Kinderbuch für Leute von sieben bis 77, beziehungsweise kann man heute noch 20 Jahre hinzuzählen. Es ist ein Kinderbuch für das Kind, das praktisch in uns weiterlebt.

Foto von Joseph Hanimann.
Joseph HanimannBild: picture-alliance/SvenSimon/A. Waelischmiller

Heute gehört "Der Kleine Prinz" zu den meistgelesenen Büchern aller Zeiten. Es wurde in mehrere hundert Sprachen und Dialekte übersetzt. Was ist wohl das Erfolgsgeheimnis dieses Werks?

Die ganze Figur des kleinen Prinzen und der Part mit dem Fuchs und der Schlange, das alles hat etwas Mysteriöses. Etwas, das in alle möglichen Kontexte und in alle möglichen Zeitepochen passt. Die Erzählung ist sehr vielseitig auslegbar: Man kann den "Kleinen Prinzen" als ökologisches Märchen verstehen, wie es in den letzten Jahren passiert ist - mit dem kleinen Prinzen, der den Planeten sauber hält, indem er die Vulkane gut durchputzt - oder man versteht ihn als eine Art Science-Fiction-Märchen, also mit dem ganzen Zukunftsoptimismus oder -Pessimismus. Und was dieses Buch auch besonders macht: Es ist im Grunde das erste interplanetare und futuristische Märchen, das es gibt.

Antoine de Saint-Exupéry war ja nicht nur Autor, sondern auch Pilot. Zwei Tätigkeiten, die auf den ersten Blick überhaupt nichts miteinander zu tun haben. In Ihrer Saint-Exupéry-Biografie schreiben Sie aber, "er war das jeweils eine durchs andere". Wie meinen Sie das? 

Saint-Exupéry hatte eine überbordende Phantasie, die immer mit ihm durchgebrannt ist. Sein ganzes Leben war ein großes, faszinierendes, sehr sympathisches Chaos. Gleichzeitig hatte er eine Begeisterung für Technik. 

Die Phantasie hat sich früh gezeigt durch Theaterstücke, die er aufgeführt hat, kleine Texte, die er schon als Kind geschrieben hat. Und dagegen hat er dann die Disziplinierung durch die Technik gesetzt - natürlich unbewusst. Im Grunde konnte er sich sein ganzes Leben nie richtig entscheiden, was er machen sollte, bzw. wollte er es wohl auch gar nicht.

Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry in einem Flugzeug.
Die Fliegerei und das Schreiben waren bei Saint-Exupéry untrennbar miteinander verknüpftBild: ullstein bild

Nur Schreiben, ohne die Hand an den Steuerknüppel zu setzen und Abenteuer zu erleben, das wäre ihm zu abstrakt gewesen. Und nur im Cockpit zu sitzen und Abenteuer zu erleben, ohne dass das eine Nachbearbeitung durch die Phantasie erführe, war für ihn unvorstellbar. Die Abenteuer mussten erzählt werden und die Erzählung musste durch eigene knifflige Situationen eingelöst werden. Das war praktisch ein Doppelstrang, an dem er sich sein Leben lang vorwärts bewegt hat.

Lässt sich konkret sagen, inwieweit sich Saint-Exupérys Fliegerdasein im "Kleinen Prinzen" niederschlägt, wie viel Autobiografisches von ihm in dem Werk steckt?                              

Es gab ja den berühmten Flugzeugabsturz, den er zwischen dem heutigen Libyen und Ägypten in den 30er-Jahren erlebt hat. Saint-Exupéry hat mit seinem Mechaniker mehrere Tage in der Wüste überlebt. Doch es fehlte nicht viel, dass er es gar nicht überlebt hätte.

Das plötzliche Auftauchen dieses kleinen Prinzen in der Wüste in seinem Buch hat einen konkreten Bezug dazu. Denn man kann sich vorstellen, dass mit immer größerem Durst Wahnvorstellungen eintreten. Und aus dieser Erfahrung hat er geschöpft für die literarische Szenografie, den Rahmen der ganzen Geschichte.

Als "Der Kleine Prinz" 1943 erstmals in New York erschien, tobte noch der Zweite Weltkrieg. Wie war die Erzählung in jener Zeit zu lesen und zu verstehen?

Saint-Exupéry hat während der zwei Jahre, die er in den USA war, enorm gelitten. Zum einen weil er ein schlechtes Gewissen hatte - seine Angehörigen, darunter seine Mutter, sind in Frankreich geblieben - zum anderen weil er sich zwischen den zwei Lagern befand. Er hat sich während der ganzen Zeit in den USA geweigert, das Kollaborationsfrankreich (mit dem Naziregime, Anm. d. Red.) öffentlich zu kritisieren, was ihm von den anderen Exilfranzosen vorgeworfen wurde. Das ging soweit, dass diese ihn zum Teil verdächtigt haben, ein Vichy-Sympathisant zu sein. Was man aber so nicht sagen kann.

Er war tief unglücklich. Und "Der Kleine Prinz" war für ihn ein Weg, dem zu entweichen - in eine Phantasiewelt. Das ist ein Reflex, den er immer wieder hatte. Ich würde auch sagen, dass "Der Kleine Prinz" ein Versuch war, die banale politische Dimension, die ihn immer gelangweilt hat, und mit der er nie ganz zurecht kam, zu übersteigen und zu sagen, es gibt viel wichtigere Dinge, wie etwa die Menschheit. Die Menschheit ist eine unpolitische Kategorie und die hat er in seinem "Kleinen Prinzen" überhöht.

Aquarell vom kleinen Prinzen im Gras von Saint-Exupéry.
"Und er warf sich ins Gras und weinte." - Frühes Aquarell vom kleinen Prinzen von Saint-Exupéry.Bild: picture-alliance/abaca/D. Van Tine

Ist seine Erzählung damit auch heute noch aktuell? 

Ja, denn das Buch antwortet auch heute noch auf die Frage nach dem Sinn des ganzen Seins. Des Seins der Welt, des Alls, des Lebens, unserer Existenz - ohne dass man dabei auf konstituierte Religionen zurückgreift, also eine Transzendenz ohne Gott. "Der Kleine Prinz" regeneriert sich permanent selbst und zeigt damit immer wieder neue Deutungshorizonte auf.

Joseph Hanimann, geboren 1952 in Chur (Schweiz) lebt und arbeitet als Kulturkorrespondent, Essayist und Autor in Paris. Seine Artikel und Reportagen erschienen in der "Neuen Zürcher Zeitung" und in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Heute schreibt er für die "Süddeutsche Zeitung". 2013 erschien seine umfassende Biografie "Antoine de Saint-Exupéry - Der melancholische Weltenbummler" im Orel Füssli Verlag. 

Das Gespräch führte Bettina Baumann.