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Abtreibungen: Deutschland vor Lockerung von 219a

Elizabeth Schumacher
23. Juni 2022

Seit der NS-Zeit gibt es in Deutschland den Paragrafen 219a, der es Ärzten und Ärztinnen verbietet, konkret über einen Schwangerschaftsabbruch zu informieren. Der ist nun gefallen. Hürden für Frauen bleiben dennoch.

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Deutschland, München | Protest für ein Recht auf Abtreibungen
Protest für ein Recht auf Abtreibungen in MünchenBild: Sachelle Babbar/ZUMA/picture alliance

"Ich habe super schlecht online Informationen gefunden", sagt Verena, die mit 22 Jahren ungewollt schwanger wurde. "Ich konnte keinen Arzt recherchieren, der Abtreibungen vornimmt, nicht herausfinden, wer in meiner Nähe ist oder welche Methoden sie nutzen."

Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland offiziell nicht erlaubt, gelten als Straftat und können mit bis zu drei Jahren Gefängnis geahndet werden. Es sei denn, die Schwangerschaft stellt ein gesundheitliches Risiko dar für die Frau oder ist die Folge einer Vergewaltigung. Straffrei ist auch ein Abbruch vor der 12. Schwangerschaftswoche nach einer verpflichtenden Beratung.

Doch der Weg zu einer Abtreibung ist noch immer steinig. Eines der größten Hindernisse ist der Paragraf 219a des Strafgesetzbuches. Er hat seine Ursprünge noch im Nationalsozialismus und besagt, dass "wer öffentlich Mittel, Gegenstände oder Verfahren, die zum Abbruch der Schwangerschaft geeignet sind, anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts bekanntgibt" mit bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe belegt werden kann. Der Paragraf ist besser bekannt als sogenanntes Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche.

Verena
Inzwischen geht Verena offen mit ihrem Schwangerschaftsabbruch umBild: privat

Vor drei Jahren wurde 219a zwar reformiert und Ärzte und Ärztinnen dürfen nun mitteilen, dass sie Abbrüche durchführen. Die Details aber, etwa, welche Behandlungsmethoden angewandt werden, dürfen sie nicht schriftlich, zum Beispiel auf ihren Webseiten, erwähnen. An diesem Freitag nun berät und entscheidet der Bundestag darüber, ob Paragraf 219a gänzlich abgeschafft wird. Gut möglich, dass er dann Geschichte sein wird. 

Für Kristina Hänel wäre das "ein großer Erfolg", wie sie sagt. Die 65-jährige Allgemeinmedizinerin wurde verurteilt, weil sie auf ihrer Webseite angegeben hatte, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Die Strafe hat sie gezahlt - und vorm Bundesverfassungsgericht dagegen Beschwerde eingelegt. Wenn nun Paragraf 219a fiele, würde sich auch für sie ganz konkret etwas in ihrem Berufsalltag verändern: "Seit einem Jahr musste ich die Informationen von der Webseite nehmen, nachdem ich rechtskräftig verurteilt war", sagt Hänel der DW.

"Nun könnten die Frauen wieder lesen, dass sie Binden und Handtücher mitbringen sollen und dass sie zwei Stunden vorher nichts essen sollen. Das sagt man ihnen zwar auch alles am Telefon, aber bei uns in der Praxis ist es eine Erleichterung, wenn die das wirklich gelesen haben und auch vorher informiert sind. Wenn der 219a jetzt wirklich fällt, dann haben wir einen guten Schritt getan in Richtung Informationen für Patientinnen."

Die Unionsfraktion im Bundestag sieht das anders. Die Konservativen von CDU und CSU lehnen die geplante Abschaffung des Werbeverbots für Abtreibungen ab. Sie sei ein "wichtiger Bestandteil des Lebensschutzkonzeptes" und solle vor allem einer Kommerzialisierung und gesellschaftlichen Normalisierung des Schwangerschaftsabbruches entgegenwirken.

Allein gelassen mit schlechtem Gewissen

Als Verena vor sechs Jahren feststellte, dass sie schwanger war, musste sie erfahren, wie rar Informationen über Abtreibungen gesät sind. Stundenlang habe sie im Internet gesucht, erzählt sie, bevor sie sich an eine lokale Klinik wandte. Dort habe man ihr drei Namen von Ärzten mitgeteilt, die sie abtelefonieren sollte. Aber für sie blieben viele Fragen unbeantwortet: Wie werden die Ärzte von anderen Patientinnen bewertet? Was ist der Unterschied zwischen einem medikamentösen und einem operativen Abbruch? Wie sieht die Nachbehandlung aus?

Alles Antworten, die ihr womöglich die Angst genommen hätten, in einer Situation, in der sie sich ohnehin alleingelassen fühlte. "Wenn man nach Abtreibung googelt, kommt man auf Webseiten, die dir suggerieren, du wirst auf jeden Fall depressiv, traumatisiert und unfruchtbar sein danach. Das ist kein medizinischer Rat, es macht einfach nur, dass du dich wie der schlechteste Mensch der Welt fühlst."

#entr_de: "Wir haben abgetrieben"

Jana Maeffert ist Gynäkologin bei der Organisation Doctors for Choice Germany, die sich für selbstbestimmte Familienplanung einsetzt. Maeffert erklärt, dass die Informationsdürre furchtbare Folgen für die Patientinnen haben könne, die womöglich zu spät rausfänden, dass eine Klinik nicht das anbietet, wonach sie suchten. Zum Beispiel dürften Ärzte auf ihrer Webseite nicht angeben, ob "sie medikamentös oder operative Abbrüche vornehmen oder beides. Sie dürfen nicht angeben, dass sie nur bis zur zehnten Schwangerschaftswoche operierten, sodass eine Frau womöglich den ganzen Weg zur Praxis fährt, nur um dann festzustellen, dass sie dort keine Abtreibung mehr vornehmen darf."

Zugang zu Abbrüchen gesunken

Um einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen, muss dem Arzt ein Nachweis vorliegen, dass sich die schwangere Frau mindestens drei Tage zuvor einer staatlich anerkannten Beratung unterzogen hat. Es gibt eine Vielzahl an Organisationen, die eine solche Beratung anbieten, aber es kann dennoch dauern, dort einen Termin zu bekommen. Verena erinnert sich, dass sie Anruf um Anruf tätigen musste, bis sie endlich einen Termin bekam. Das kann unter Umständen so lange dauern, dass die Frauen riskieren, das erste Trimester ihrer Schwangerschaft zu überschreiten.

Dass Verena schließlich eine Beratungsstelle und auch einen Arzt fand, ist keine Selbstverständlichkeit. Seit 2003 ist die Zahl der Ärzte und Ärztinnen, die Abtreibungen vollziehen, um 40 Prozent gesunken. Es gibt jetzt nur noch 1200 Praxen in Deutschland, in der eine Frau straffrei einen Abbruch vollziehen kann. Vor 20 Jahren waren es noch 2000 Praxen.

Jana Maeffert
Jana Maeffert kritisiert unter anderem die schlechte Versorgungslage für Abbrüche in DeutschlandBild: Kate Brady/DW

"In Deutschland sind Abtreibungen ein Tabu. Für Patientinnen und auch für die Ärzte und Ärztinnen", sagt Gynäkologin Jana Maeffert. "Wenn Sie eine Praxis in einer kleinen Stadt haben, könnte es gut sein, dass sie sich dagegen entscheiden, Schwangerschaftsabbrüche anzubieten, da Sie sonst in ihrer kleinen Gemeinde als der 'Abtreibungs-Arzt' betitelt werden könnten." Und sie fügt hinzu: "Nur einer von zehn Gynäkologen und Gynäkologinnen in Deutschland bietet Abtreibungen an. Nicht unbedingt, weil sie sie ablehnen, sondern weil die Hürden so hoch sind."

Manche Patientinnen, sagt Maeffert, müssten 150 Kilometer anreisen, um einen Arzt zu finden. Das gelte besonders für ländliche und katholisch geprägte Regionen in Bayern. Aber sogar in einigen großen Städten sieht die Situation nicht anders aus. Laut lokalen Medien gibt es etwa in Stuttgart nicht ein einziges Krankenhaus, das Abtreibungen durchführt. Und in Münster ist der letzte Arzt, der noch Abbrüche anbot, 2019 in Rente gegangen.

Abtreibungsraten auf einem Allzeit-Tief

Mit dem Wegfall der Praxen, die Abtreibungen anbieten, sank auch die Zahl der Frauen, die einen Abbruch durchführten. Das Jahr 2021 brachte die niedrigste Rate an Schwangerschaftsabbrüchen seit 1996. Laut Statistischem Bundesamt waren es rund 94.000. Im ersten Quartal 2022 stieg die Zahl allerdings leicht um 4,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.

Abtreibung in Europa - verachtet, verheimlicht, verboten

Unterdessen bekommen die Ärzte und Ärztinnen, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten, die Angriffe von Abtreibungsgegnern zu spüren, die vor Kliniken protestieren, in großen Städten aufmarschieren, Hassnachrichten schicken und in den sozialen Medien aggressive Kommentare hinterlassen. Kristina Hänel kenne das seit Jahren, erzählt sie. Polizeischutz habe sie zwar nicht, aber vor jedem Vortrag, den sie halte, tausche sie sich mit der Polizei aus. Sie selbst gehe bald in Rente, aber für jüngere Frauen seien die Bedrohungen noch eine größere Belastung: "Das führt natürlich auch dazu, dass niemand sich freiwillig in diese Situation begibt. Schon gar nicht eine, vielleicht junge, Ärztin, die Kinder hat, die für eine Familie zu sorgen hat. Die wird sich dem einfach gar nicht aussetzen wollen."

Politischer Wille für einen Wandel

Inzwischen haben einige Medizinstudierende das Problem selbst in die Hand genommen. Sie haben eine kreative Möglichkeit gefunden, ein anschauliches Training für das Prozedere einer Abtreibung zu schaffen. In sogenannten "Papaya-Workshops" nutzen sie die Frucht, um das weibliche Fortpflanzungssystem nachzustellen. Ein solches Training ist nicht verpflichtend, um Abtreibungen anbieten zu können, aber die Workshops schließen eine Lücke im deutschen Gesundheitssystem. Laut der Organisation Medical Students for Choice werde das Thema Abtreibung "nur zehn Minuten, wenn überhaupt" im Studium behandelt.

Einige Ärzte und Ärztinnen in Deutschland verschreiben inzwischen auch die für einen medizinischen Schwangerschaftsabbruch erforderlichen Pillen im Rahmen eines Telemedizinprojekts, bei dem die schwangere Frau zu Hause, aber unter Aufsicht eines Arztes, Medikamente einnimmt, um einen Abbruch herbeizuführen und eine Operation zu vermeiden. Dies ist nicht zu verwechseln mit der "Pille danach", die in Deutschland seit 2015 frei erhältlich ist.

Es gibt also verschiedene Möglichkeiten für einen Schwangerschaftsabbruch in Deutschland. Allerdings bleibt es schwierig, alle Informationen zu erhalten und das Verfahren innerhalb der ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft abzuschließen.

Das könnte sich zumindest ein wenig ändern, wenn die neue Bundesregierung ihr Versprechen einlöst, den Paragrafen 219a abzuschaffen. Dies würde es Ärzten und Ärztinnen ermöglichen, umfassende, medizinisch korrekte Informationen für Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen wollen, im Internet zu veröffentlichen.

Mitarbeit: Lisa Hänel (Hinweis der Redaktion: Die Redakteurin ist nicht mit der Protagonistin im Beitrag verwandt.)