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Politik

Wo sich Soldaten gegenüberstehen

Aschot Gasasjan
12. Juni 2021

Seit dem Ende der Kämpfe um Berg-Karabach gibt es eine neue Grenzlinie zwischen Aserbaidschan und Armenien. Wie ist die Lage vor Ort? Ein DW-Reporter hat sich auf den Weg zu den Stellungen der Militärs gemacht.

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Aserbaidschan | Konflikt in Berg-Karabach
An der armenisch-aserbaidschanischen Grenzlinie am Abschnitt Kelbajar-GegharkunikBild: Aschot Gazazyan/DW

Bis ins Berggebiet der armenischen Provinz Gegharkunik sind es von der Hauptstadt Eriwan 170 Kilometer. Nach den letzten Kämpfen um Berg-Karabach ist es zum Grenzgebiet zwischen Armenien und Aserbaidschan geworden. Eriwan zufolge rückte das aserbaidschanische Militär noch Mitte Mai bis zu vier Kilometer in das neue Grenzgebiet vor. Dabei besetzte es mehr als ein Dutzend Höhen in der Nähe der armenischen Dörfer Kut und Verin Shorzha und begann mit dem Aufbau von Befestigungsanlagen. Auf den Hügeln sind sowohl armenische als auch aserbaidschanische Posten zu sehen, manchmal liegen nicht einmal 15 Meter zwischen ihnen.

Zu Sowjetzeiten war das überwiegend von Armeniern bewohnte Berg-Karabach ein autonomes Gebiet in der Republik Aserbaidschan. Ende der 1980er-Jahre brach dort ein ethnischer Konflikt aus, die Kaukasus-Region erklärte sich für unabhängig. Die selbsternannte Republik kontrollierte auch Teile der umliegenden aserbaidschanischen Bezirke. Der Konflikt wurde noch in den 1990ern eingefroren.

Infografik Karte Konflikt Armenien Aserbaidschan nach Friedensverhandlungen

Ende September 2020 entbrannte der Krieg erneut, wurde aber nach knapp anderthalb Monaten durch eine von Aserbaidschan, Armenien und Russland verkündete Waffenstillstandsvereinbarung beendet. Die aserbaidschanische Regierung in Baku stellte die Kontrolle über große Teile ihrer früheren Provinz Berg-Karabach und der umliegenden Bezirke wieder her.

Überlebenskampf der Menschen in Kut

Auf dem Weg zu den Stellungen des armenischen Militärs liegt das Dorf Kut. Heute leben dort weniger als hundert Menschen, nur 18 Kinder besuchen die örtliche Schule. In Kut gibt es mehr armenische Soldaten als Bewohner. Das Dorf hat sich sozusagen in eine Befestigungsanlage gegen einen möglichen aserbaidschanischen Angriff verwandelt.

Die Leiterin der Dorfverwaltung, Sima Tschittschjan, erzählt, die Menschen würden hier wie auf einem Pulverfass leben. "Wir können unser Vieh nicht mehr auf den Wiesen weiden lassen, denn auf Schritt und Tritt lauert jetzt Gefahr. Kartoffeln haben wir nur auf Äckern gepflanzt, die außerhalb der Schusslinie liegen. Und jetzt ist Zeit für die Heuernte, aber wir werden wohl kein Futter für den Winter vorbereiten können", klagt sie.

Aserbaidschan | Konflikt in Berg-Karabach
Sima Tschittschjan blickt mit Sorge auf den WinterBild: Aschot Gazazyan/DW

Ein Bewohner von Kut, der ungenannt bleiben möchte, rät, an die bereits befestigte Grenze zwischen Gegharkunik und dem jetzt von Aserbaidschan kontrollierten Bezirk Kelbajar zu fahren. "In der trilateralen Waffenstillstandsvereinbarung vom 9. November gab es einen Punkt über die Öffnung von Straßen und Kommunikationsverbindungen. Aber schaut selbst, wie das in der Praxis aussieht", sagt er unzufrieden.

Zwei Straßen, die Gegharkunik mit Kelbajar und weiter mit Stepanakert in Berg-Karabach verbinden, sind vollständig gesperrt. Auf der Straße stehen in mehreren Reihen hunderte Gabionen, große, mit Steinen aufgefüllte und mit Beton ausgegossene Drahtkörbe. Auf der anderen Seite sind Befestigungen der aserbaidschanischen Armee zu sehen.

Aserbaidschan | Konflikt in Berg-Karabach
So sieht die neue Grenze zu Aserbaidschan von armenischer Seite ausBild: Aschot Gazazyan/DW

Die Armenier sagen, die Aserbaidschaner würden diesen Abschnitt der Grenze bereits als delimitiert (rechtlich vereinbart) und demarkiert (physisch ausgewiesen) betrachten. Die Soldaten beobachten sich gegenseitig, aber bewaffnete Konflikte gibt es hier keine. Doch die Sperrungen beeinträchtigen die Wirtschaft der Region. Es gibt auch keine Buslinien mehr nach Berg-Karabach, weshalb Touristen ausbleiben.

Ängste der Bewohner von Verin Shorzha

Der nächste Ort im Grenzgebiet auf armenischer Seite ist Verin Shorzha. Nur noch wenige Familien leben hier. Geblieben seien sie nur wegen der vielen Soldaten im Dorf, sagen die armenischen Militärs. Zerstört wurde das Dorf weitgehend noch während des ersten Krieges um Berg-Karabach.

Seit den jüngsten Kämpfen haben auch die Bewohner von Verin Shorzha Angst, ihre Kühe und Schafe auf die gewohnten Weiden zu treiben. Denn sie wissen nicht, wo sich die jeweiligen Stellungen befinden und von wo Gefahr droht. Daher weiden die Menschen ihr Vieh in der Nähe ihres Dorfes und sogar in ihm selbst. Zum Beispiel auf dem alten armenischen Friedhof aus dem 10. Jahrhundert, wo Grabsteine seit langem mit rotem Moos überwachsen sind. Gras gibt es hier immer weniger, aber für die Menschen ist das Vieh fast die einzige Einnahmequelle. Vor kurzem, so berichten sie, hätten die Aserbaidschaner eine Herde beschossen und mehrere Tiere verletzt. Daraufhin habe man sie über den nächsten Hügel vertrieben, auf eigenes Territorium.

Aserbaidschan | Konflikt in Berg-Karabach
Weideflächen bleiben ungenutzt, da Schüsse aus Stellungen in der Umgebung drohenBild: Aschot Gazazyan/DW

Auf dem Friedhof spielen mehrere Hirten Karten. Auf die Frage, wie sie die Lage einschätzen, antworten sie: "Alles wird gut, unsere Armee ist ja hier..." Aber eigentlich beruhigen sich die Dorfbewohner so nur gegenseitig. In Wirklichkeit macht ihnen Sorge, dass die Stellungen der Aserbaidschaner nur 400 Meter von den Äckern und Stauseen entfernt sind. "Wir verstehen nicht, wer mit wem verhandelt, aber die Situation wird immer schlimmer. Es fließt zwar kaum Blut, aber das kann sich ändern, und dann ist eine offene Konfrontation unvermeidlich", befürchten sie.

Nicht schießen, sondern verhandeln

Der Weg aus dem Dorf zu einer Stellung der armenischen Armee führt mit dem Auto durch hohes Gras auf einen Hügel. Ein Zelt mit einer Flagge und Befestigungen aus alten Autoreifen, Baumstämmen und Steinen. Dort stehen Soldaten mit Maschinengewehren, Schutzwesten und schwarzen Masken. Nur zehn Meter davon entfernt bauen aserbaidschanische Soldaten eine Mauer aus Gabionen. Und auf den benachbarten Hügeln befinden sich Schießstände der Aserbaidschaner, die genau beobachten, was unten passiert.

Mauerbau an der ArmenischAserbaidschanischen Grenze
Aserbaidschanische Soldaten bauen eine Mauer nur zehn Meter von den armenischen Stellungen entferntBild: Aschot Gazazjan/DW

"Wir sind Militärs. Aber es gibt keinen Befehl, die Aserbaidschaner in diesem Gebiet zu behindern", erzählt ein armenischer Offizier. Auf allen Posten bestätigen die Soldaten: Befehl sei, kein Feuer zu eröffnen, sondern zu versuchen, alle Streitfragen durch Verhandlungen zu lösen. Warnschüsse in die Luft seien aber erlaubt.

Von Zeit zu Zeit treffen sich Vertreter beider Seiten an der Kontaktlinie, um die Lage zu besprechen und sich über Dinge zu einigen. Dabei gerät die Situation öfter außer Kontrolle, sagen die Soldaten. Vertreter beider Seiten stoßen und schlagen sich dann gegenseitig mit Gewehrkolben, schießen in die Luft und fluchen. Das bleibt nicht ohne blaue Flecken und Schürfwunden. Videos solcher Schlägereien tauchen immer wieder im Internet auf. Bei einer davon wurde kürzlich ein armenischer Soldat sogar getötet.

Wo das russische Militär steht

In der Berggegend von Gegharkunik ist heute schwer nachzuvollziehen, wer welches Gebiet genau kontrolliert. Seit der Waffenstillstandsvereinbarung gibt es in Berg-Karabach häufig Grenzzwischenfälle. Eine beiderseits anerkannte Festsetzung des exakten Grenzverlaufs zwischen beiden Ländern hat es nicht gegeben. Dies wird nach Ansicht der armenischen Seite erst nach einem Rückzug des aserbaidschanischen Militärs auf seine ursprünglichen Positionen möglich sein. Unterdessen wandte sich Eriwan mit der Bitte um militärische Hilfe an Moskau.

Aserbaidschan | Konflikt in Berg-Karabach
Armenischer Militärposten in den Bergen oberhalb von Verin ShorzhaBild: Aschot Gazazyan/DW

Trotz der komplexen Lage im Gebiet Gegharkunik gibt es hier aber keine russischen Truppen. Sie haben mehrere Posten im armenischen Sjunik und Goris direkt an der Grenze zu Berg-Karabach errichtet. Dort ist eine Gruppe der in Gjumri stationierten russischen 102. Militärbasis untergebracht. Erhöht wurde auch die Anzahl russischer Grenzschützer. Weitere russische Soldaten kontrollieren inzwischen den Flughafen im armenischen Sissian.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk