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Politik

Corona: Versuchte Vertuschung in Tirol?

Kim Traill | Stefan Schocher Wien / hin
12. April 2020

Das Skigebiet um Ischgl in Tirol, Österreich, war ein Corona-Hotspot. 4000 Mitstreiter einer Sammelklage beschuldigen die Behörden, zu spät reagiert zu haben - wissentlich. Aus Wien Kim Traill und Stefan Schocher.

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Martina Büchinger mit Familie in Ischgl Österreich
Bild: privat

Anfang März war es in den Tiroler Alpen mild und sonnig und es lag jede Menge Schnee. Touristen aus ganz Europa kamen in Scharen in die Berge, um Abfahrten und Après-Ski zu genießen - aus Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden, aus Norwegen, Schweden und Island. Das Geschäft boomte deutlich mehr als im Vorjahr. Tourismusunternehmer lockten gezielt Urlauber in die Region, die Angst vor dem COVID-19-Ausbruch in Norditalien hatten.

Martina Büchling war sich der heraufziehenden Gefahr nicht bewusst, als sie mit ihrem Mann und zwei erwachsenen Töchtern aus Deutschland anreiste und am 8. März im Skiort Ischgl eintraf.

Zwei Wochen vorher war das Grand Hotel Europa in Innsbruck vorübergehend geschlossen worden, nachdem ein italienischer Mitarbeiter am Empfang positiv auf das Coronavirus getestet worden war. Das Ganze wurde als "Einzelfall" hingestellt und über das Virus seitdem nicht mehr gesprochen. Die 51-jährige Martina Büchling sagt, sie hätten nichts gewusst über COVID-19 im Paznauntal, in dem Ischgl liegt: "Wir wären sonst nicht gefahren."

Im Raum steht der Vorwurf, die Behörden hätten die Gefahr vertuscht. Auch wenn viele Einzelheiten noch nicht bekannt sind - eines ist klar: Bereits im Januar und Februar berichteten britische und andere europäische Medien über Corona-Fälle in Tirol. Am 1. März stellten die isländischen Behörden eine Warnung auf die Website für Frühwarnungen der EU-Kommission, nachdem 15 isländische Besucher aus Ischgl mit Corona-Infektionen heimgekehrt waren.

Martina Büchinger mit Tochter Österreich Ischgl
Martina Büchling (rechts): "Wie Glassplitter in der Lunge" Bild: privat

Vier Tage später erklärte die Regierung in Reykjavik Ischgl zum "Risikogebiet". Innsbruck reagierte mit dem Hinweis, die Touristen müssten sich die Krankheit wohl auf der Rückreise eingefangen haben. Dann wurde ein Barkeeper in der beliebten Après-Ski-Lokal Kitzloch in Ischgl positiv getestet. Der Tiroler Landessanitärrat behauptete daraufhin: "Eine Übertragung des Coronavirus auf Gäste der Bar ist aus medizinischer Sicht eher unwahrscheinlich."

Sehenden Auges in die Katastrophe

Drei Tage nach der Corona-Diagnose des Barkeepers teilte Martina Büchling sich eine Skigondel mit einer jungen Frau, die sich beschwerte, dass das Kitzloch geschlossen worden sei. Als sie ins Hotel zurückkam, stellte die Deutsche erstaunt fest, dass die Bars in der Stadt dicht waren, während vor den Restaurants noch Essen verkauft wurde. Sie fragte sich, warum ein Schild am Lift die Menschen bat, Abstand voneinander zu halten - ohne dass jemand die Aufforderung durchsetzte. Am Abend des 13. März schließlich warf der Hotelbesitzer die Familie völlig unerwartet raus. Die Behörden hatten beschlossen, das Skigebiet Ischgl ab dem 14. März zu schließen.

Mit tausenden anderen fassungslosen Touristen, die plötzlich aus ihrer Unterkunft geflogen waren, flohen die Büchlings und fuhren die Nacht durch, bis sie in ihrem Zuhause in der Nähe von Frankfurt ankamen.

Zwei Tage später begann das Fieber. Martina wurde schwer krank, hatte einen trockenen Husten, Muskelschmerzen und das Gefühl, "Glassplitter in der Lunge" zu haben. Ihr Geruchs- und Geschmackssinn fielen aus. Es waren "zwei Wochen Hölle", erzählt sie, mit "panischer Angst zu sterben". Jetzt ist sie auf dem Weg der Genesung. Aber sie ist wütend.

Sie ist eine von rund 4000 Tirol-Urlaubern, die sich einer Sammelklage des österreichischen Verbraucherschutzvereins (VSV) anschließen möchten. Sie ist überzeugt, dass den Behörden das Risiko bewusst war, lange bevor die Tatsachen öffentlich bekannt wurden.

Peter Kolba - VSV chairman
Verbraucherschützer Peter Kolba: "Wirtschaftliche Gründe liegen auf der Hand"Bild: VSV/Peter Kolba

VSV-Vorsitzender Peter Kolba hat bei der Staatsanwaltschaft Strafanzeige eingereicht. Die Tiroler Behörden, sagt er, hätten "von einer Gefahr der massenhaften Ansteckung" gewusst oder wissen müssen und trotzdem die Skigebiete offengehalten. Ob das stimmt und ob sich daraus Schadenersatzansprüche für Infizierte ergeben, muss die Staatsanwaltschaft nun prüfen.

Kolba glaubt, es habe sowohl finanzielle als auch politische Motive gegeben, einen Abbruch der Skisaison aufzuschieben. "Die wirtschaftlichen Gründe liegen auf der Hand. Man muss ja nur mal nachfragen, was an einem Skitag in Ischgl umgesetzt wird. Da kann man sich schon vorstellen, dass man sagt: 'Na, machen wir halt noch zwei Tage.'"

Ein Filz aus Wirtschaft und Politik

Tourismus ist in Tirol eine wesentliche Einkommensquelle, mehr als ein Viertel aller Jobs liegen in der Branche. Kolba verweist auf die engen Verbindungen zwischen der Tourismusindustrie - vor allem den mächtigen Seilbahngesellschaften - und der konservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP). Die ÖVP regiert - in einer Koalition mit den Grünen - sowohl das Bundesland Tirol als auch die Republik Österreich.

So traf sich - eine Woche bevor das Coronavirus bei einem Mitarbeiter des Hotels Europa in Innsbruck entdeckt wurde - in eben diesem Hotel Österreichs Bundeskanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit Mitgliedern der Adlerrunde. Zu dieser Gruppe gehören Vertreter der größten Tiroler Unternehmen, darunter Seilbahnbetreiber, Hotelbesitzer und Bauunternehmer. Zusammen haben sie der ÖVP insgesamt rund eine Million Euro gespendet.

Sondersitzung des Nationalrats zum COVID-19 Gesetz
Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz: Enge Verbindungen zur Tiroler WirtschaftBild: Bundeskanzlermat/A. Melicharek

Kurz nach diesem Treffen wurden die Posten in der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ) neu gewählt, das ist die gesetzliche Interessenvertretung aller österreichischen Unternehmen. Einer der führenden Kandidaten in der Landeskammer Tirol war Franz Hörl, Hotel- und Seilbahnen-Lobbyist, ÖVP-Abgeordneter im Parlament in Wien und Landeschef des Tiroler Wirtschaftsbundes, der ÖVP-Fraktion in der Wirtschaftskammer. Der Wirtschaftsbund nimmt rund 13 Millionen Euro jährlich an Mitgliedsgebühren aus der Tourismusbranche ein.

Etwa ein Drittel von Hörls Wählerschaft hängt am Tourismus. Für öffentliches Aufsehen sorgte darum ein SMS-Austausch zwischen Hörl und dem Besitzer des Kitzloch vom 9. März. Hörl bittet darin inständig, die Bar möge schließen, um ein verfrühtes Ende der Skisaison zu vermeiden - eine Situation, die für seine Unterstützer ernsthafte finanzielle Einbußen bedeutet hätte.

Ermitteln sollten Wiener - nicht Tiroler

Selbst als die Zahl der Coronavirus-Infektionen in Tirol anstieg, sagte Landesgesundheitsminister Bernhard Tilg (ÖVP) in einem Fernsehinterview im ORF noch: "Die Behörden haben alles richtig gemacht."

Ähnlich sieht das bis heute Tirols Landeschef Günther Platter. Auf Anfrage teilte er der DW mit, dass viele Länder sich in einer "Ausnahmesituation" befänden, "die noch vor wenigen Wochen unvorstellbar" gewesen sei. Er räumte allerdings ein: "Mit dem Wissen von heute hätten die Behörden gewisse Entscheidungen wohl anders getroffen." Und haben die anstehenden Wahlen in der Wirtschaftskammer (WKÖ) Anfang März die Entscheidung beeinflusst, die Skisaison im Paznauntal nicht zu beenden? Platter betont, das könne er "gänzlich ausschließen".

VSV-Chef Peter Kolba glaubt, dass weder die Tiroler Behörden noch die Tiroler Staatsanwaltschaft die Affäre in Ischgl und im Paznauntal ernsthaft untersuchen werden. Er drängt darauf, dass der Fall an die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft in Wien übergeben wird.

Und Martina Büchling? Sie möchte sich an das Positive des Familienurlaubs erinnern. "Wir hatten eine schöne Zeit zusammen. Und zumindest habe ich niemanden infiziert."