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Die Charité und ihr Intensivpfleger aus Mexiko

16. Dezember 2020

Was macht ein Krankenhaus, wenn an allen Ecken und Enden Pflegepersonal fehlt? Ganz einfach: Die Sache selbst in die Hand nehmen und auch im Ausland suchen.

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Deutschland Fachkräftemangel Herert Perez Intentisivpfleger
"Pfleger aus Lateinamerika sind immer sehr gut ausgebildet. Knackpunkt ist die deutsche Sprache" - Herbert PérezBild: privat

Bei Jens Spahn und Judith Heepe ist es ein wenig wie bei der Geschichte mit dem Hasen und dem Igel, Heepe ist immer schneller. Im September 2019 unterschreibt der deutsche Gesundheitsminister eine Vereinbarung in Mexiko, dass mexikanische Pflegekräfte hierzulande deutlich schneller eine Arbeitserlaubnis bekommen. Die Pflegedirektorin der Charité war schon da. Einen Monat zuvor schickt Spahn seine Staatssekretärin auf die Philippinen, um für Pflegekräfte zu werben. Heepe war bereits vorher hingefahren.

Im Märchen der Gebrüder Grimm denkt sich der Hase: Das ist nicht möglich. Judith Heepe muss selbst lachen, als sie am Telefon über den imaginären Wettlauf mit Jens Spahn erzählt. Im Rennen um die Rekrutierung von ausländischen Pflegekräften muss man als Pflegedirektorin äußerst kreativ sein. Und die Dinge irgendwann selbst in die Hand nehmen.

Seit mehr als fünf Jahren leitet Heepe den Pflegebereich des ältesten Krankenhauses Berlins und der berühmtesten Klinik Deutschlands und ist damit Vorgesetzte von 4600 Fachkräften. Auch das Personal der Charité arbeitet in dieser zweiten Corona-Welle jeden Tag am Anschlag - vor allem die Intensivpflegerinnen und -pfleger auf den Corona-Stationen.

"Markt an Pflegekräften in Deutschland leer gefegt"

Doch wäre die Pandemie vor vier Jahren ausgebrochen, hätte die Charité wohl irgendwann die weiße Flagge hissen müssen. "Damals fehlten uns 400 Pflegekräfte, jedes Jahr haben wir diese Lücke um 100 Mitarbeiter gestopft und gleichzeitig die Ausbildungskapazitäten erhöht", sagt Heepe.

Judith Heepe | Pflegedirektorin an der Berliner Charité
"Die internationalen Pflegekräfte haben hier Wärme und Offenheit hereingebracht" - Judith HeepeBild: Wiebke Peitz/Charité Berlin

Sie ist dafür nicht nur auf die Philippinen und nach Mexiko geflogen, sondern war auch schon in Albanien und hat bereits frühzeitig die Arme nach Südamerika ausgestreckt. Bald will die Charité auch brasilianische Pflegekräfte nach Deutschland holen. "Der Markt in Deutschland ist vollkommen leer gefegt", berichtet die Pflegedirektorin, nach Informationen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), fehlen bundesweit rund 3500 bis 4000 Fachkräfte für die Intensivpflege.

Wie kann das sein? Eine Frage, die Judith Heepe auch immer wieder von Politikern gestellt wird. "Denen sage ich nur: Wir haben die Situation doch selbst verschuldet, Ihr habt einfach in den letzten Jahren nicht genügend qualifiziert. Wir haben jetzt eine völlig unnötige Lücke in den nächsten vier, fünf Jahren." Ein Notstand, der Deutschland in den nächsten Wochen angesichts der überfüllten Intensivstationen teuer zu stehen kommen könnte. "Dazu gehört auch, dass wir die Menschen besser bezahlen müssen", so Heepe.

Kampf mit Behörden und Bürokratie

Die Verwaltungsdirektorin der Charité ist eine, die anpackt. Motto: Geht nicht, gibt es nicht."Ich war dann irgendwann so mit dem LAGeSo vertraut, wie ich es eigentlich nie wollte", sagt Heepe mit einem Lachen. Mit dem Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin diskutiert sie vor allem über die Vorgabe an ausländische Pflegekräfte, immer Originalunterlagen einreichen zu müssen. Ihre besondere Beziehung zu der Berliner Gesundheitsbehörde hat eine Vorgeschichte: Sie spielt vor fast drei Jahren knapp 10.000 Kilometer entfernt, in Mexiko - und Judith Heepe weiß bis heute jedes Detail.

"In einer Videokonferenz saß ich 15 völlig verzweifelten Mexikanern gegenüber, die am Boden zerstört waren, weil ihre Vermittlungsfirma pleite gegangen war", erinnert sie sich, "und dann habe ich im Überschwang gesagt: 'Egal, wir schaffen das! Wir bekommen Euch schon hierhin!'"

Für Judith Heepe beginnt ein zweiter, nervenaufreibender Nebenjob. Alles das, was normalerweise die Agenturen erledigen, nimmt sie jetzt selbst in die Hand: sich um Visa und Flüge kümmern, Behörden abklappern, Bankkonten, Krankenversicherungen und Sprachkurse organisieren. Und manchmal, wenn das ganze Projekt wegen der deutschen Bürokratie zu scheitern droht, auch zu unkonventionellen Maßnahmen greifen.

Mexikanischer Pfleger mit Originaldokumenten im Gepäck

Im April 2018 besteigt Herbert Pérez in Mexiko-Stadt ein Flugzeug mit einem Koffer und einem Rucksack Richtung Berlin, die Charité hat ihm den Flug bezahlt. Im Rucksack sind zwei Hosen, drei T-Shirts und zwei Hemden. Im Koffer: alle Originalunterlagen der 15 Mexikaner, die in Deutschland als Pflegekräfte arbeiten wollen. Der junge indigene Pfleger mit dem deutschen Vornamen aus der südlichen Provinz Oaxaca ist die Vorhut, er hat alles im Gepäck, was die LAGeSo fordert.

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"Ich sage den deutschen Kollegen immer: 'Ihr habt hier alles, genießt es. Ihr braucht nicht auszuwandern'" - Herbert PérezBild: privat

"Die Waage auf dem Flughafen zeigte genau 22,5 Kilogramm an", erinnert sich Pérez. "Alles in letzter Sekunde, einige sind extra zum Flughafen gekommen, um mir noch Dokumente zuzustecken." Jetzt muss der Mexikaner lachen, wenn er an seine erste Reise nach Deutschland zurückdenkt, damals war er mit den Nerven vollkommen am Ende.

"Was ist, wenn ich in dem ganzen Trubel irgendetwas vergessen habe, wenn beim Umsteigen Dokumente verloren gehen oder die Fluglinie einen Fehler begeht und der Koffer plötzlich verschwunden ist?", schwirrt ihm damals durch den Kopf. Doch alles geht gut. Heute, nach einem sechsmonatigen Anerkennungsprogramm, ist Herbert Pérez der Vorzeige-Mexikaner in der Charité, arbeitet auf der Corona-Intensivstation und hilft Tag für Tag, dass Deutschland besser durch die Krise kommt.

Dramatische Situation auf den Intensivstationen

"Die aktuelle Situation ist äußerst kritisch, es gibt nur noch wenige Intensivbetten", sagt Pérez. "Wir stoßen derzeit an die Grenzen unserer Kapazitäten." Er selbst hat seine Grenzen schon ausgetestet, hatte sich wie viele Pfleger mit dem Coronavirus infiziert und war eine Woche mit Fieber ans Bett gefesselt.

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Pfleger Herbert Pérez in der CharitéBild: privat

Herbert Pérez, der schon als kleines Kind Krankenpfleger werden wollte, ist jemand, der in seinem Eifer gebremst werden muss. Noch heute ist er verwundert, wenn ihm die Kollegen sagen, er solle doch mal einen Gang herunterschalten, ihm ständen auch Urlaub oder freie Tage zu. "So etwas kenne ich aus Mexiko nicht, dort hat man als Arbeiter wenige Rechte."

Bald soll seine Partnerin nachkommen, Judith Heepe setzt alles daran, dass die Erzieherin bald im Kindergarten der Charité anfängt. Eine internationale Erfolgsgeschichte also, bei der es nur Gewinner gibt? Es mehren sich auch kritische Stimmen, die Deutschland vorwerfen, den Entwicklungsländern gut ausgebildetes Personal wegzuschnappen, das diese dringend im eigenen Land benötigen. In der Frankfurter Rundschau war jüngst sogar von "Pflegeimperialismus" die Rede.

"Deutschland muss Problem der Pflege selbst lösen"

Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) kennt diese Vorwürfe. Die Experten sind sich einig: Deutschland habe beim Pflegenotstand ein hausgemachtes Problem, andere Länder dürften in einer Notlage wie jetzt in der Corona-Pandemie nicht noch zusätzlich geschwächt werden.

"Fachkräfte aus dem Ausland zu holen, klingt immer nach einer großen Lösung. Je näher man sich das anschaut, desto kleiner wird diese Lösung", sagt jedoch Michael Isfort, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung. Der Anteil der ausländischen Pflegekräfte im Krankenhaussektor betrage gerade einmal ein Prozent. "Das ist verschwindend gering."

Pfleger wie Herbert Pérez gehen vor allem in die Großstädte wie Berlin, laut Isfort arbeiten 90 bis 95 Prozent der ausländischen Fachkräfte in den Ballungsräumen. "Es gelingt uns überhaupt nicht und noch nicht einmal in Ansätzen, Pflegekräfte aus dem Ausland in die ländliche Versorgung zu holen," klagt Michael Isfort.

Deutschland l Thomas van den Hooven, Pflegedirektor in Münster
"Wir haben durch Corona gesehen, wie verletzlich das System der Akquise von Pflegekräften ist" - Thomas van den HoovenBild: privat

Viel Aufregung also um nichts? "Es geht hier um eine Überbrückungsmaßnahme", sagt Thomas van den Hooven, Pflegedirektor im Universitätskrankenhaus Münster. Und überhaupt: der Zeitpunkt für eine solche Diskussion sei gerade der falsche. "Der Markt für ausländische Pflegekräfte ist wegen Corona sowieso zusammengebrochen."

Heißt auch: In den nächsten Jahren werden Pflegedirektoren und Pflegedirektorinnen an großen Kliniken wie van den Hooven in Münster und Judith Heepe in Berlin bei der Suche nach Mitarbeitern weiter erfinderisch sein und sich irgendwie durchlavieren müssen. Doch es ist vollkommen klar, dass Personal aus dem Ausland langfristig keine Antwort auf den Pflegenotstand hierzulande sein kann. Van den Hooven: "Das Problem der Pflege in Deutschland muss in Deutschland gelöst werden."