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Die Flut und das fehlende Frühwarnsystem

19. Juli 2021

Hätte man die Bevölkerung in den Katastrophengebieten eindringlicher vor der Flut warnen müssen? DW-Reporter Oliver Pieper berichtet aus Sinzig.

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Sinzig nach der Flutkatastrophe
Aufräumarbeiten am Tag 5 in Sinzig in Rheinland-PfalzBild: Oliver Pieper/DW

Als Michael Kopitzara nach der Flutkatastrophe in Sinzig wieder seinen Schuppen betritt, traut er seinen Augen nicht. Seine geliebte Honda hat die Flut halbwegs überlebt. Zwar muss der Motorradliebhaber ordentlich Geld investieren, um die Maschine wieder flott zu machen. Aber im ganzen Chaos ist es ein kleiner Lichtblick, denn Erdgeschoss und Keller seines Hauses sind komplett zerstört.

"Keiner hätte damit gerechnet, dass so etwas hier passiert", sagt er.

Sinzig nach der Flutkatastrophe
Michael Kopitzara: "Man sieht Katastrophen in den Medien und denkt sich: 'Wieso sind die Menschen geblieben?'"Bild: Oliver Pieper/DW

Kopitzara ist seit 30 Jahren stolzes Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr in Sinzig und kann bestens einschätzen, wie die Menschen hier vor der herannahenden Katastrophe vorgewarnt wurden. "Unsere Feuerwehr hat das Menschenmöglichste getan", sagt er, und tatsächlich ging sie schon am Nachmittag vor der Flut von Tür zu Tür.

Feuerwehr mahnt deutlich zur Vorsicht

Weil Kopitzara in Blickweite der Ahr wohnt, wurden er und seine Nachbarn aufgefordert, ihr Auto besser in Sicherheit zu bringen und auf dem Parkplatz des nahen Supermarktes abzustellen. "Ich habe das zwar gemacht, aber ein wenig belächelt. Als vor vier Jahren hier vor einem Jahrhunderthochwasser gewarnt wurde, kam es noch nicht mal bei uns im Garten an und war ein ruhiges Geplätscher."

Sinzig nach der Flutkatastrophe
Durch Sinzig zieht sich immer noch eine Schneise der VerwüstungBild: Oliver Pieper/DW

Am frühen Abend fuhr die Feuerwehr eine zweite Runde durch das Viertel, klingelte erneut an den Haustüren und warnte die Menschen per Lautsprecherdurchsage vor der Flut. Die Botschaft war deutlich: Das Wasser wird sehr hoch! Seien Sie extrem vorsichtig! Sichern Sie ihr Hab und Gut! Verfolgen Sie die Informationen in den Medien!

Kopitzara, der die ganze Zeit in Kontakt mit seinen Kollegen stand, beschloss nun doch etwas zu tun. Er stapelte Sandsäcke vor seiner Tür und packte die wichtigsten Ordner vom Keller ins Wohnzimmer. "An meinen Laptop und die dienstlichen Unterlagen, die in meinem Arbeitszimmer im Keller sind, habe ich gar keinen Gedanken verschwendet", sagt er.

Katastrophenschutz muss ganz oben beginnen

Denn auch ein Blick auf seine Katwarn-App beruhigte ihn halbwegs: bei der Applikation zur Übermittlung von Katastrophenwarnungen hieß es kurz vor Mitternacht, alle Bewohner 50 Meter rechts und links von der Ahr sollten ihre Wohnung verlassen. Kopitzara wohnt 70 Meter vom Fluss entfernt.

Deutschland Sinzig | Katwarn-Meldung | Hochwasser
Bild: privat

Deutschland diskutiert gerade die Frage, warum der Katastrophenschutz nicht funktionierte, um hochwassergefährdete Orte wie Sinzig zu evakuieren. Michael Kopitzara hat dazu eine klare Meinung: "Von oben müssen solche Entscheidungen getroffen werden, man kann so etwas unmöglich einer kleinen Feuerwehr in jedem einzelnen Ort aufbürden."

Im Nachhinein, denkt er, hätte man mit einer sorgfältigen Beurteilung der Lage vielleicht frühzeitig und schneller reagieren können. Doch wer trifft so eine folgenschwere Entscheidung? "Man hätte ja den Mut haben müssen, Zehntausende Menschen innerhalb kürzester Zeit zu evakuieren, auch wenn es vielleicht umsonst ist." 

Tragödie in einem Sinziger Wohnheim

Man trifft in Sinzig Menschen, welche die ganze Zeit vollkommen ahnungslos waren, die durch die Schreie der Nachbarn aus dem Schlaf gerissen wurden und dann in Windeseile im Nachthemd ihr Haus verließen. Und welche, die im ersten Stock wohnen und erst wach wurden, als Sinzig schon einer riesigen Seenlandschaft glich.

Deutschland Sinzig | Flutkatastrophe | Heim der Lebenshilfe
Im Heim der Lebenshilfe kommt es zu einer TragödieBild: Oliver Pieper

Vor allem die Schutzbedürftigen waren der Flutkatastrophe völlig hilflos ausgeliefert, die Menschen also, die gar nicht in der Lage sind, Katastrophenmeldungen zu erfassen. Im flussnahen Haus der Lebenshilfe kamen im Erdgeschoss zwölf Menschen mit geistiger Behinderung ums Leben.

Flut trifft unvorbereitete Bevölkerung

Kerstin Laubmann steht eine Straße entfernt und ist noch immer schockiert über die Ereignisse der Hochwassernacht. Dabei muss sie den Menschen jetzt Mut zusprechen, seit 30 Jahren ist die gebürtige Duisburgerin die Pfarrerin der Evangelischen Gemeinde von Sinzig.

Sinzig nach der Flutkatastrophe
Kerstin Laubmann: "Den Menschen wird erst alles bewusst werden, was passiert ist, wenn ihr Haus leer geräumt ist"Bild: Oliver Pieper/DW

"Die Menschen wissen noch gar nicht, wie es Ihnen geht. Sie sind alle in einem Tunnel, wollen retten, was zu retten ist. Und dann sitzen sie da und fangen plötzlich an zu weinen", sagt sie.

Laubmann hat auch schon als Pfarrerin in Andernach gearbeitet, am Rhein, wo man an Hochwasser gewöhnt ist. Aber eine solche Katastrophe an der Ahr? "Ich habe das schlichtweg für unmöglich gehalten, ich konnte mir das nicht vorstellen. Viele hier haben in der Nacht gefragt: Welches Wasser?"

Sinzig nach der Flutkatastrophe
Vor allem Schuttberge prägen das Bild von SinzigBild: Oliver Pieper/DW

Laubmanns Sohn, der weiter unten an der Ahr wohnt, wurde in der Nacht evakuiert. Eine Sirene heulte kein einziges Mal in der Flutnacht von Sinzig, wozu auch, denkt die Pfarrerin, sie hätte dann eher an ein ausbrechendes Feuer gedacht.

Kerstin Laubmann ist auch fünf Tage nach der Flutkatastrophe noch ratlos, welche Konsequenzen Sinzig aus der Flut ziehen soll. Meterhohe sogenannte Spundwände errichten, ausgerechnet da, wo der Radweg und das Naherholungsgebiet verlaufen? Undenkbar. Bewusster leben, Grünflächen bewahren und mit der Versiegelung aufhören? Ja, unbedingt. Doch ihr Fazit lautet: "Vor so einem Wasser kann man sich nicht schützen."

Sinzig am Tag der Überflutung