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Durch andere Kleidung "Kontrolle gewinnen"

Jonathan Crane
2. August 2021

Die norwegischen Beach-Handballerinnen haben den Anfang gemacht. Nun hat die Debatte über die Bekleidung von Sportlerinnen - oder über das, was die Frauen tragen müssen - die Spiele in Tokio erreicht.

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2018 Beach Handball World Championships I Team Norwegen
Die norwegischen Frauen - gefeiert weltweit Bild: Maxim Tumanov/dpa/picture alliance

Es war keine leichte Entscheidung: Im Rückblick bemerkt die Torfrau der norwegischen Beachhandballerinnen immer noch, dass doch einiges auf dem Spiel stand. "Wir hatten Angst, aus dem Turnier geworfen zu werden", sagte Tonje Lerstad der DW. "Aber im letzten Spiel waren wir schon bereit, eine Strafe zu zahlen - wenn wir eine bekommen sollten. Also haben wir gesagt: 'Scheiß drauf, wir können jetzt nicht rausfliegen. Was kann schlimmstenfalls passieren?'"

Es einfach getan

Ihr Schritt, in kurzen Hosen statt in den vorgeschriebenen, aber in ihren Augen entwürdigenden knappen Bikini-Teilen auf den Platz zu gehen, hatte sich schon seit einiger Zeit abgezeichnet. Vor dem Spiel um die Bronzemedaille gegen Spanien bei der Europameisterschaft Anfang des Monats haben es die norwegischen Beachhandballerinnen dann einfach getan.

Was dann tatsächlich geschah, war nach Lerstads Worten "verrückt". Das Thema erregte weltweites Aufsehen. Die US-Sängerin Pink bot an, die daraus resultierende Geldstrafe zu zahlen. So oder so - die Bekleidungsvorschriften für Sportlerinnen sind erneut in den Mittelpunkt gerückt. "Ich hoffe, dass wir damit einen Trend ausgelöst haben", sagte Lerstad. "Früher dachten die Frauen einfach: 'Es ist, wie es ist'. Aber jetzt übernehmen wir die Kontrolle über unsere Outfits. Das ist großartig."

Mary Harvey, Geschäftsführerin des Zentrums für Sport und Menschenrechte, sagt, dass es um ein Gleichgewicht zwischen dem Aufbau der Sportlerinnen-Marke und dem Aussehen einerseits und dem Wohlbefinden andererseits gehe. "Wenn eine Sportlerin dieses Niveau erreicht hat, geht es in erster Linie um Leistung", so Harvey. "Eine andere Sache ist die mentale Komponente. Wenn man sich gut fühlt, wird man auch gut abschneiden."

Die deutschen Turnerinnen - vorbildlich

In Tokio haben sich die deutschen Turnerinnen gegen die Sexualisierung ihres Sports gewandt, indem sie in sogenannten "Unitards" auftraten, einem Ganzkörper-Outfit, das sie erstmals im April bei einem Wettkampf trugen. Seinerzeit sagte Elisabeth Seitz, eine der Turnerinnen, gegenüber der DW, jede Sportlerin solle "selbst entscheiden, was sie tragen möchte".

Die Hürden dafür sind allerdings von Sportart zu Sportart unterschiedlich. Im Kunstturnen sind Ganzkörper-Outfits erlaubt, aber die meisten ziehen die traditionellen Trikots aus alter Gewohnheit vor. Beim Beachhandball sind die Regeln jedoch restriktiver, da die Spielerinnen Bikinihosen tragen müssen, "die eng anliegen und in einem nach oben gerichteten Winkel zum oberen Teil des Beins geschnitten sind".

Tokyo 2020 | Deutsche Turnerinnen Sarah Voss und Paulina Schäfer, Elisabeth Seitz und Kim Bui
Die deutschen Turnerinnen Sarah Voss, Paulina Schäfer, Elisabeth Seitz und Kim Bui (von links)Bild: Marijan Murat/dpa/picture alliance

Nach dem Protest der norwegischen Mannschaft wird der Internationale Handballverband IHF, der die Regeln für diesen Sport festlegt, nun wahrscheinlich seine Kleiderordnung ändern müssen. "Ich kann mir kein anderes Ergebnis vorstellen", sagte Lerstad.

Der Blick von Männern

Bezeichnenderweise scheint niemand, auch nicht der Verband selbst, ganz sicher zu sein, warum es solche Bekleidungsvorschriften noch gibt. In einigen Fällen, so die Sporthistorikerin Johanna Mellis, sind die Regeln notwendig, um einen fairen und sicheren Sport zu gewährleisten. In anderen Fällen gehe es darum, zu kontrollieren, wie Frauen wahrgenommen würden. Ein Faktor dabei sei auch der Wunsch, Frauen in ihrem Outfit "weiblich, ansprechend und attraktiv für Männer aussehen zu lassen", so Mellis gegenüber der DW.

Unvergessen ist die Äußerung von Sepp Blatter, dem ehemaligen Präsidenten des Fußball-Weltverbands FIFA: Spielerinnen sollten doch "engere Shorts" tragen, um so die Popularität des Frauenfußballs zu steigern. Die Idee wurde zwar nicht umgesetzt, aber die Implikation war klar. Mellis sieht das Beachhandball-Beispiel zwar als "positives Ergebnis", will darin aber noch keinen Wendepunkt sehen. Sexualisierung sei nur ein Teil eines umfassenderen Problems. "Diese Organisationen werden größtenteils von Männern geleitet. Sie sind alle in der weißen, westlichen, männlichen Kultur verwurzelt."

Natürliche Form?

Als Beispiel nennt Mellis die Tatsache, dass in Tokio der Schwimmerin Alice Dearing - der ersten schwarzen Frau, die für Großbritannien in ihrer Disziplin bei Olympischen Spielen startete - verboten wurde, eine Kappe zu tragen, die ihrem Afro-Haar angepasst wurde. Die FINA, der Dachverband des Schwimmsports, argumentierte, die Kappe passe nicht "zur natürlichen Form des Kopfes". Und - mehr noch: Internationale Schwimmer hätten noch nie "Kappen dieser Größe und Form" benötigt.

"Dies erinnert an eine rassistische Phrenologie [Schädellehre - Anm. d. Red.]", sagte Mellis, die auch Co-Moderatorin des Podcasts "The End of Sport" ist. "Schwimmen sorgt für ein echtes Problem. Wenn Menschen aufgrund von systemischem Rassismus oder anderen Formen der Diskriminierung nicht schwimmen können, kann das zu erschreckenden Ertrinkungsraten führen - und das hat es auch getan."

Es geht auch darum, überhaupt mitzumachen

Trotz der Aufhebung der Beschränkungen in einigen Sportarten wie dem Boxen können muslimische Frauen in anderen Disziplinen immer noch mit Geldstrafen belegt oder sogar disqualifiziert werden, wenn sie den Hidschab tragen. "Wenn man den Hidschab bei internationalen Wettbewerben verbietet, bedeutet das, dass viele Frauen nicht teilnehmen können", erläuterte Mary Harvey. "In manchen Kulturen geht es bei der Kleidung auch um den Zugang."

Sportverbände brauchen mehr Frauen und mehr Vielfalt in ihren Entscheidungsprozessen. "Grundlegend für all diese Dinge ist die Stimme der Athleten", sagte Harvey. Man müsse mit Sportlerinnen und Sportlern rund um den Globus sprechen - und dabei auch konservativere Gesellschaften berücksichtigen. Im Moment könnten Frauen "Entscheidungen beeinflussen - aber sie treffen keine Entscheidungen", so Harvey. Für die norwegische Beachhandballerin Lerstad gibt es keinen Zweifel: "Jetzt ist es wirklich an der Zeit, etwas zu ändern."

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.