1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
KatastropheEuropa

Verschiebt Erdogan die Wahlen?

17. Februar 2023

Nach der Erdbebenkatastrophe ist in der Türkei eine Diskussion darüber entbrannt, ob Präsident Erdogan die Wahlen verschieben wird. Die Opposition will am bisherigen Termin festhalten. Doch geht das überhaupt?

https://p.dw.com/p/4Nakx
Ein Mädchen wird Tage nach dem Beben aus den Trümmern gerettet
Ein Mädchen wird Tage nach dem Beben aus den Trümmern gerettetBild: BULENT KILIC/AFP

Während sie mit der Trage in den Krankenwagen gebracht wird, schaut sich Ela irritiert die Umgebung an. Ihre Blicke suchen nach einem bekannten Gebäude oder vertrauten Gesicht. Weit und breit nur Schutt und Beton. "Welchen Tag haben wir heute?", soll die zweifache Mutter als erstes gefragt haben, berichtet die türkische Nachrichtenagentur Anadolu. Erst am Montag, 228 Stunden nach den Erdbeben,  wurden sie und ihre Kinder aus den Trümmern in Hatay gerettet. Eines der Wunder,  die im türkischen Erdbebengebiet immer seltener werden.

Schon seit einigen Tagen sind schwere Maschinen im Einsatz, um Beton, Schutt und Stahl wegzuräumen. Wer kann, verlässt Hatay, die südlichste Provinz der Türkei. Diejenigen, die nicht wegkönnen, versuchen in Zelten oder den wenigen intakt gebliebenen Häusern unterzukommen. Oft harren mehrere Familien zusammen in den Unterkünften aus. Müll ist ein großes Problem, sauberes Wasser und Sanitäranlagen sind ein knappes Gut.

In der Provinz Hatay ist die Zerstörung am größten
In der Provinz Hatay ist die Zerstörung am größtenBild: Tunahan Turhan/ZUMA Wire/IMAGO

Die Zerstörung ist groß. In zehn Provinzen sind mehr als 41.000 Todesopfer zu beklagen. Die Zahl der Verletzten ist zuletzt auf mehr als 105.000 gestiegen. Inmitten dieser Katastrophe ist nun in der Türkei eine Diskussion über die Wahlen entbrannt.

Finden die Wahlen statt?

Losgetreten hat die Diskussion der ehemalige Vizepremier Bülent Arinc, ein langjähriger Weggefährte des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. In einer Erklärung auf Twitter forderte er, die Wahlen zu verschieben, am liebsten um ein Jahr. Auch wenn Arinc kein Amt mehr bekleidet, hat sein Wort Gewicht in der Öffentlichkeit. 

Präsident Erdogan (3. v. r.) nach dem Beben in Kahramanmaras
Präsident Erdogan (3. v. r.) nach dem Beben in Kahramanmaras Bild: Mustafa Kamaci/AA/picture alliance

Die Opposition ist strikt gegen diese Idee. Sie vermutet politisches Kalkül hinter einer möglichen Verschiebung. Für Kemal Kilicdaroglu, den Chef der größten Oppositionspartei CHP, käme dies einem "Putsch" gleich. Nach der Katastrophe wolle Erdogan Zeit gewinnen, vor allem wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, lautet die Kritik. Schon vor der Katastrophe war die türkische Wirtschaft angeschlagen. Der Unternehmerverband TÜRKONFED schätzt die Schäden durch das Erdbeben auf mehr als 84 Milliarden US-Dollar.

Laut Verfassung nur ein Monat Aufschub möglich

Der türkische Präsident Erdogan hatte zuletzt den 14. Mai als Wahltermin anvisiert. Laut türkischer Verfassung muss der Urnengang spätestens am 18. Juni stattfinden.

Beate Apelt, Leiterin der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Istanbul, hält beide Termine für nicht realistisch. "In der Türkei gibt es keine Briefwahl. Man muss da wählen, wo man registriert ist", sagt sie der DW. Da sehr viele Menschen aber durch die Katastrophe zu Binnenflüchtlingen geworden sind und ihre Personaldokumente noch unter den Trümmern liegen, wäre ihrer Ansicht nach die Vorbereitung und Durchführung der Wahlen innerhalb von drei bis vier Monaten eine riesige Herausforderung.

Laut türkischer Verfassung können die Wahlen aber nur im Kriegszustand verschoben werden. Der jetzige Ausnahmezustand, der nach den großen Erdbeben für die betroffenen zehn Provinzen verhängt worden ist, reicht für eine Verschiebung nicht aus.

Die Verfassungsrechtlerin Sule Özsoy Boyunsuz sieht die türkische Hohe Wahlkommission (YSK) nun in der Pflicht. Ihrer Meinung nach habe sie in den nächsten Monaten genug Zeit, alle Maßnahmen zu ergreifen, um die Wahlen im Frühsommer abzuhalten. Türkischen Medien sagte sie, dass es unter den jetzigen Umständen möglich sein sollte, Wähler dort wählen zu lassen, wo sie einen Unterschlupf gefunden haben.

Kristian Brakel, Leiter der den deutschen Grünen nahestehenden Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, ist anderer Ansicht: Die Bürokratie des Landes brauche derzeit alle Energie, um die Nachwirkungen der Katastrophe zu bewältigen. "Es gibt gute Gründe für eine Verschiebung", so Brakel gegenüber der DW.

Mehr als 13 Millionen Menschen vom Erdbeben betroffen

Das Erdbebengebiet umfasst zehn Provinzen mit mehr als 13 Millionen Einwohnern. Bei den vergangenen Wahlen 2018 waren in dieser Region acht Millionen Wähler registriert. Experten zufolge soll die Zahl vor der Katastrophe aber weit darüber gelegen haben, nämlich bei knapp neun Millionen, weil das Gebiet in den vergangenen Jahren eine starke Zuwanderung verzeichnete. Davon ausgehend wird in der Region mit 24.000 Wahlurnen gerechnet, die aufgestellt werden müssten. Auf die Erdbebenregion entfallen 90 Mandate der insgesamt 600 Abgeordneten.

Offiziellen Angaben zufolge wurden in der Region bis zum Wochenende mehr als 1,2 Millionen Menschen provisorisch untergebracht. Mehr als 400.000 hat der türkische Katastrophenschutz anderswo in Sicherheit gebracht.

Wird die Katastrophe instrumentalisiert?

Vor dem Erdbeben sagten die Meinungsforschungsinstitute einen knappen Wahlausgang voraus. Erdogans Werte waren besser als die seiner Partei. Wie sich das Erdbeben auf die politische Stimmung auswirken wird, lässt sich noch nicht absehen. "Das Erdbeben wird im ganzen Land als ein nationales Trauma empfunden", fügt Beate Apelt hinzu. Ihrer Ansicht nach werden Erdbeben und ihre Folgen beim nächsten Wahlkampf und dem Ausgang der Wahl eine entscheidende Rolle spielen.

Kemal Kilicdaroglu, Chef der größten Oppositionspartei, redet auf einer Veranstaltung
Kemal Kilicdaroglu, Chef der größten Oppositionspartei, ist gegen die Verschiebung der WahlenBild: Dilara SenkayaREUTERS

Erdogan gerät derzeit immer mehr unter Druck. Geologen werfen ihm vor, Warnungen ignoriert zu haben. Ingenieure kritisieren, dass in Erdbebengebieten trotz Risiken massiv gebaut wurde. Dabei seien auch Vorschriften zur Gebäudesicherheit außer Acht gelassen worden. 

Unter der AKP-Regierung erlebte die Türkei in den vergangenen 20 Jahren einen Bauboom. Oft erhielten regierungsnahe Firmen bei den Ausschreibungen die staatlichen und städtischen Aufträge. Von Vetternwirtschaft und Korruption ist seit Jahren die Rede.

Bei der gegenwärtigen Katastrophe sind viele Krankenhäuser, Rathäuser und auch Gebäude der türkischen Katastrophenschutzbehörde wie Kartenhäuser zusammengefallen. Auch Flughäfen in der Region erlitten Schäden, sodass nur in einer Stadt der Flugbetrieb aufrechterhalten werden konnte. Alles gebaut im staatlichen Auftrag.

Kemal Kilicdaroglu, Chef der größten Oppositionspartei CHP wirft Erdogan seit Jahren vor, um sich herum eine Bau-Lobby zu haben, die sich mit öffentlichen Projekten bereichert. Er spricht von der "Fünferbande", gemeint sind die fünf Megafirmen.

Kaum Kritik in den Medien

Kritik an Erdogan oder seiner Regierung kommt im Großteil der Medien auch jetzt nicht vor, denn bis zu 95 Prozent der Presse wird von der Regierung kontrolliert. Neben den staatlichen Anstalten gehören fast alle TV-Kanäle, Zeitungen und Agenturen zu regierungsnahen Unternehmen, die auch zu den großen Playern der Baubranche gezählt werden.

Bergarbeiter aus Zonguldak helfen im Erdbebengebiet
Bergarbeiter aus Zonguldak helfen im ErdbebengebietBild: Murat Kocabas/ZUMA/IMAGO

Daher dominiert in diesen Medien eine eher positive Berichterstattung über lebend gerettete Opfer, Spenden und Erfolge der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD. Erdogans Reden im Erdbebengebiet, in denen er Soforthilfen und einen raschen Wiederaufbau versprach, wurden live übertragen. "Innerhalb eines Jahres werden wir in diesen Städten neue Projekte fertigstellen und den Einwohnern die Schlüssel zu ihren Wohnungen übergeben", sagte er vor wenigen Tagen im Epizentrum Kahramanmaras.

Weiterhin wird die Opposition diffamiert und an der Arbeit gehindert. Zuletzt wurde die Krisenzentrale der prokurdischen Oppositionspartei HDP im Epizentrum unter Zwangsverwaltung gestellt. LKW mit Sachhilfen aus Städten, die der Opposition angehören, werden mit Bannern der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD versehen. 

Nach den anfänglichen chaotischen Zuständen versucht nun die Regierung nun, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Alle Minister sind in der Erdbebenregion unterwegs, Erdogan präsentiert sich als Landesvater.

Kristian Brakel sieht Chancen für Erdogan, von der Katastrophe am Ende zu profitieren: Wenn es gelinge, große Summen von der EU für den Wideraufbau zu bekommen, könnte daraus ein kleines Jobwunder entstehen, was der Regierung und Erdogan nützen würde.

Elmas Topcu | Journalistin
Elmas Topcu Reporterin und Redakteurin mit Blick auf die Türkei und deutsch-türkische Beziehungen@topcuelmas