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PolitikEuropa

“Es herrscht eine Art kalter Bürgerkrieg”

Juri Rescheto
13. Juli 2022

Wer in Russland mit der Kreml-Politik nicht einverstanden ist, flieht. Mehr als hunderttausend Russen sollen ihr Land seit dem Kriegsbeginn verlassen haben. Wer bleibt, riskiert seinen Job und die Freiheit.

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Anti-Kriegs-Stimmung macht Russlands Lehrer angreifbar
Kritische Lehrer müssen um ihren Job fürchten: Tatiana Tscherwenko aus MoskauBild: Juri Rescheto/DW

Kritiker des Krieges leben gefährlich in Russland

Ihre letzten Korrekturen vor den Sommerferien können die letzten in ihrem ganzen Berufsleben werden. Die Moskauer Mathematik-Lehrerin Tatjana Tscherwenko hofft, dass sie auch im neuen Schuljahr ihren Job behält. Sicher ist das nicht. Zu unbequem wurde die Pädagogin für die Schulleitung - wegen ihrer offenen Anti-Kriegshaltung. Im Gespräch mit der DW klagt sie: "Man setzt mich langsam, aber sicher unter Druck. Selbst bei scheinbar belanglosen Dingen."

Tatiana Tscherwenko zeigt ein Schulheft, in dem ein Schüler am Rand etwas gekritzelt hat. Harmlos. Eigentlich. "Ich habe das nicht beachtet natürlich, wurde dafür aber von der Direktorin gemaßregelt. Ich wäre meiner Pflicht nicht nachgegangen. Ich hätte die Eltern des Schülers in die Schule zitieren müssen. Nur für diese Kritzeleien!”

Kritiker des Krieges leben gefährlich in Russland

Als der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine beginnt, gehen Hunderte Menschen auf die Straßen. Auch Tatjana Tscherwenko. Obwohl der Protest friedlich verläuft, wird sie festgenommen und muss ein Bußgeld von umgerechnet rund 300 Euro bezahlen. Danach wird sie von der Schuldirektorin zu einem Vieraugengespräch gerufen, um über ihre politischen Ansichten zu sprechen: "Wir wissen Bescheid von ihrer Aktion", sagte die Direktorin. "Das ist unzulässig. Ich fragte: wieso? Ist doch meine Freizeit. Darauf sie: Ja, aber die Eltern ihrer Schüler könnten dagegen sein." Seitdem habe die Schulleitung Tatiana auf dem Kieker, erzählt sie.

"Gehen Sie einfach!"

Die Geschichte von Tatjana Tscherwenko ist kein Einzelfall. In ganz Russland werden Staatsangestellte eingeschüchtert. Wer gegen den Krieg sei, sei gegen den Staat, heißt es. Und müsse den Job freiwillig aufgeben. Drohungen an Hochschulrektoren gerichtet kamen neulich aus der Duma, dem Unterhaus des russischen Parlaments. Vorsitzender Wjatscheslaw Wolodin drohte: "Hier geht es um die Sicherheit unseres Staates. Um die Zukunft unseres Landes. Darum sollten Sie sich, verehrte Rektoren, bei aller Toleranz, Ihrer Verantwortung bewusst sein. Wenn nicht, gehen Sie einfach. Stehen Sie auf und gehen Sie weg.”

Wjatscheslaw Wolodin und Wladimir Putin
Duma-Chef Wjatscheslaw Wolodin (r.) fordert kritische Russen zum Verlassen des Landes aufBild: Kremlin Pool/Russian Look/imago images

Der russische Lehrerverband "Allianz der Lehrer” fürchtet, dass solche Äußerungen von ganz oben als Aufforderung zum Handeln ganz unten ankommen und dass kritisch denkende Pädagogen jetzt mundtot gemacht werden. Gegenüber der DW kritisiert Verbandsmitglied Swetlana Losowskaja aus Ulan-Ude: "Das ist fatal für Russland. Für die ganze russische Gesellschaft. Wir erleben zurzeit eine Art Kalten Bürgerkrieg in Russland.” Die Gesellschaft sei gespalten. Swetlana Losowskaja hofft aber, dass trotzdem Menschen dableiben, die bis zum Schluss die Wahrheit sagen.

Doch davon gibt es immer weniger in Russland. Aus Angst vor Verfolgung wegen ihrer Kreml-Kritik haben Schätzungen zufolge mehr als hunderttausend russische Fachkräfte ihre Heimat bereits verlassen. Journalisten, Forscher, IT-Spezialisten, Künstler und Schauspieler fliehen nach Georgien, ins Baltikum, in die Türkei oder nach Deutschland. Unter ihnen der bekannte junge Historiker und Religionswissenschaftler Konstantin Michailow. Seit einigen Wochen lebt er in Wien und möchte als Forscher frei über seine Arbeit sprechen dürfen, sagt Michailow im DW-Gespräch: "Es gibt immer mehr Verbote, die Staatsmacht mischt sich immer mehr in die Geschichte ein, die sie allerdings sehr schlecht kennt. Darum bevorzugte ich aus sicherer Entfernung, selbst über die harmlosen Dinge zu sprechen."

Riskante Forschungen

Die früher harmlosen Dinge scheinen heute gar nicht mehr so harmlos zu sein für die russischen Behörden. Michailow forscht auf dem Gebiet der Russisch-Orthodoxem Kirche, sein Spezialgebiet sind Geschlechterfragen, auch Homosexualität. Solche Forschungen seien im modernen Russland riskant, klagt Konstantin Michailow. Er arbeite zurzeit an einem Buch über neue religiöse Bewegungen. Dabei würden aber immer mehr religiöse Bewegungen in Russland für extremistisch erklärt: "Ich bin selbstverständlich kein Mitglied dieser Bewegungen, könnte aber selbst zum Extremisten erklärt werden, weil ich über die forsche.” Dabei gebe es offiziell nach wie vor keine Zensur in Russland, räumt Michailow ein und fügt hinzu: "Aber es gibt eine vom Staat organisierte Selbstzensur.”

Russland Kirche l  orthodoxer Ostergottesdienst, Präsident Putin
Kirche als Instrument der Herrschaft: Präsident Putin bei der Ostermesse im April 2022Bild: Alexander Nemenov/AFP/Getty Images

Neben der offenen Anti-Kriegshaltung sind es aber auch ganz praktische Dinge, die vor allem junge Russen zur Flucht bewegen, wie den IT-Fachmann Roman Stich. Der 23-Jährige arbeitet hauptsächlich für Kunden im Ausland. Nach dem Ausschluss Russlands aus dem internationalen Geldtransfersystem SWIFT im Zuge der westlichen Sanktionen konnte er kaum noch Geschäfte aus Moskau machen, erzählt Stich der DW: "Ich beschäftige achtzig Menschen - und an die dachte ich zuallererst. Dazu kommen politische Gründe. Ich will keine Steuern in einem militaristischen Russland zahlen und will auch nicht mehr mit diesem Land assoziiert werden. Auch in Zukunft will ich damit nichts zu tun haben."

Wohl aber mit Georgien. Diesem Land verdankt Roman Stich seinen Neubeginn. Hier sieht er seine Zukunft. Und - die Zukunft von Tausenden anderen, wie er sagt, "anständigen” Russen - so nennt er die Landsleute, die sich offen gegen den Krieg positionieren.

Die Mathe-Lehrerin Tatjana Tscherwenko will im Gegensatz zu Roman Stich aber Russland nicht verlassen. Erst kürzlich, erzählt sie, kam eine Schülerin weinend zu ihr. Sie habe Verwandte in der Ukraine und wisse nicht, mit wem sie darüber sprechen könne. Gerade für solche Momente sei sie als Pädagogin gefragt, sagt Tscherwenko. Zurzeit ist sie im Sommerurlaub. Sollte sie danach ihren Job verlieren, werde sie vor Gericht gehen. Sie will kämpfen bis zum Schluss.

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Juri Rescheto Chef des DW-Büros Riga