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PolitikEuropa

Hilferufe aus dem Süden

Andreas Noll
2. August 2020

In Süditalien schlagen die Bürgermeister Alarm: Aufnahmelager für Flüchtlinge sind überfüllt, in der Bevölkerung wächst der Unmut. Auch andere Mittelmeerstaaten melden wieder steigende Flüchtlingszahlen.

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Italien Bootsflüchtlinge erreichen nachts die italiensiche Insel Lampedusa
Bootsflüchtlinge erreicht nachts die italienische Insel LampedusaBild: Reuters/M. Buccarello

Die Wut vieler Bürgermeister auf die italienische Regierung ist groß. Von einer unerträglichen Hitze und Enge in zu kleinen und überfüllten Flüchtlingslagern berichten sie - und fordern für ihre Gemeinden einen Aufnahmestopp.

Mehr als 13.000 Migranten sind in diesem Jahr über das Mittelmeer nach Italien gekommen - das sind rund 9000 Menschen mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Besonders im Juli haben sich nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks viele Menschen bei vergleichsweise ruhiger See auf die gefährliche Reise begeben.

Die Stimmung vor Ort kippt

Felix Weiss von der Flüchtlingsrettungsorganisation Sea-Watch ist gerade von einer mehrwöchigen Luftaufklärungsmission auf Lampedusa nach Deutschland zurückgekehrt. Er berichtet, dass die Stimmung auf der Insel zu kippen drohe: "Auf Lampedusa ist die Lage äußerst angespannt. In den vergangenen Monaten haben knapp 5500 Menschen die Insel eigenständig erreicht. Das sind zwei, drei Boote am Tag. Und Lampedusa ist eine Insel, die fast ausschließlich vom Tourismus lebt."

Italien Fiebermessen bei neu eingetroffenen Flüchtlingen auf Lampedusa
Corona-Gefahr bannen: Fiebermessen bei neu eingetroffenen Flüchtlingen auf LampedusaBild: Reuters/M. Buccarello

Die deutschen Helfer haben zwar noch keine Übergriffe registriert, aber unlängst wurden zwei kleinere Schiffsfriedhöfe, auf denen die Holzschiffe der Migranten gelagert werden, angezündet - und auch im Alltag spürt Weiß eine veränderte Stimmung in der Bevölkerung, die früher den Migranten gegenüber aufgeschlossen war.

Streit um Verantwortung für die Krise

Die Corona-Krise, so der Eindruck der Seenotretter, hat den Druck erhöht. Der Tourismus auf der Insel sei regelrecht eingebrochen - weniger als die Hälfte der Besucher als in normalen Jahren sei derzeit auf der Insel, schätzt Felix Weiß. Wenn dann, wie jüngst geschehen, Holzboote mit Migranten an den Touristenstränden anlanden, mache das die Lage noch schwieriger.

In dieser angespannten Situation treffen die Unterstützungsangebote aus Rom auf wenig Gegenliebe. Die Regierung will ein Quarantäneschiff in den Hafen der sizilianischen Kommune Porto Empedocle schicken. Asylsuchende und illegal Eingewanderte könnten dort in Quarantäne gehen, so stellt das Innenministerium sich das vor. Doch die Bürgermeisterin des kleinen Hafenstädtchens lehnt ab. Sie fürchtet Risiken für den auch hier wichtigen Tourismus.

Dabei hat es jüngst viele Probleme mit der Corona-Prävention in den Flüchtlingsunterkünften gegeben. Hunderte Migranten haben auf eigene Faust die Aufnahmelager heimlich verlassen und so die Quarantäne-Auflagen verletzt. Zu einem größeren Corona-Ausbruch ist es gleichwohl bislang nicht gekommen.

Italien Der Parteivorsitzende der Rechtsextremen in Italien, Matteo Salvini
Ruft zum "Stopp der Invasion" auf: Italiens Ex-Innenminister Matteo SalviniBild: Getty Images/AFP/A. Solaro

Der Chef der rechtspopulistischen Lega, Matteo Salvini, versucht derweil, politisches Kapital aus der Situation zu schlagen. Bei einem Besuch auf Lampedusa vor einer Woche machte der frühere Innenminister die vermehrt neu ankommenden Migranten verantwortlich für die schlechte Lage des Tourismus und der Fischer auf der Insel. Über seinen Twitter-Account ruft Salvini, der auf Lampedusa von zahlreichen Anhängern gefeiert wurde, immer wieder zum Stopp der "Invasion" auf und stellt die Hilfsbedürftigkeit der Migranten in Frage. Aktuell kommen vor allem Menschen aus dem wirtschaftlich von der Corona-Pandemie schwer getroffenen Tunesien auf Lampedusa an.

Brüssel soll helfen

Die italienische Regierung hat auf den Hilferuf der Kommunen auch reagiert, indem sie die Armee mobilisierte. Rund 300 Soldaten hat sie nach Sizilien abkommandiert, um Auffanglager und Quarantänestationen zu bewachen. Außerdem hat Rom die Europäische Union um Unterstützung gebeten - was vor allem bedeutet, dass EU-Partner Kontingente bei sich aufnehmen sollen.

Am Freitagabend vereinbarte die italienische Innenministerin Luciana Lamorgese mit ihrem französischen Kollegen Christophe Castaner eine neue politische Initiative. Die beiden Minister wollen dem sogenannten Malta-Abkommen zur Verteilung von Migranten von der Südgrenze der EU in andere Staaten neues Leben einhauchen. In der Vereinbarung hatte sich eine Gruppe EU-Staaten - darunter auch Deutschland - 2019 auf eine geordnete Verteilung von Migranten geeinigt. Die Umsetzung klappt aber nicht.

Auch in Spanien landen mehr Neuankömmlinge

Dabei registriert nicht nur Italien mehr Schutzsuchende. Auch in Spanien verzeichnen die Behörden einen Anstieg von Fluchten über das Mittelmeer. Mit rund 2000 Menschen kamen im Juli an den spanischen Küsten deutlich mehr Migranten an als in den Vormonaten. In Murcia und Almería sind am vergangenen Wochenende 700 Menschen in Booten angelandet. Die meisten Menschen kommen aus Algerien, nicht wie sonst üblich aus Marokko.

Spanien Flüchtlinge aus Algerien erreichen Spanien
Neuankömmlinge: Vor allem Flüchtlinge aus Algerien (wie hier im Bild) erreichen derzeit SpanienBild: picture-alliance/dpa/L. Carnero

Doch anders als in Italien hat sich die Lage verglichen mit dem Vorjahr nicht verschärft, mit Ausnahme der Kanarischen Inseln. Vollständig unter Kontrolle hat die Regierung die Situation dennoch nicht. Beobachter klagen über ein Kompetenzwirrwarr durch die Quarantänepflicht. Die spanische Regierung möchte die neuen Flüchtlinge nicht in den Aufnahmelagern unterbringen, weil sie befürchtet, sie könnten dort das Virus einschleppen. Doch die notwendigen Quarantäneunterkünfte müssten die Regionalregierungen bereitstellen. Derzeit geschieht dies in Zelten, was angesichts der großen Hitze im Land ebenfalls problematisch ist.

Vergleichsweise ruhig ist die Lage hingegen in Griechenland. Das Flüchtlingshilfswerk hat im Juli lediglich 244 Migranten an der Grenze registriert, wie die UN-Organisation auf DW-Anfrage mitteilte. Im vergangenen Jahr waren es im gleichen Zeitraum noch 5008 Personen. Das weitaus größere Problem in Griechenland sind die immer noch überfüllten Lager auf den Inseln.

Italien will Flüchtlingspolitik reformieren

Während sich die Staaten auf europäischer Ebenen angesichts der neuen Herausforderungen noch sortieren, will die italienische Regierung ein Zeichen setzen und die Arbeit der NGOs bei der Flüchtlingsrettung erleichtern. Wie italienische Medien am Freitag berichteten, einigten sich Vertreter der Linksdemokraten (PD) und der Fünf-Sterne-Bewegung darauf, die vom früheren Innenminister Salvini durchgesetzten Vorschriften zu ändern.

Griechenland Migranten steigen in Athen in ein Flugzeug der Aegean Airlines
Griechenland: Kaum Neuankömmlinge, doch die Aufnahmelager sind immer noch überfülltBild: Reuters/C. Baltas

Dem Kompromiss zufolge sollen unter anderem die Millionen Euro teuren Strafen fallen, mit denen Schiffe von Hilfsorganisationen belegt werden sollten. Des Weiteren will die Regierung wieder einen erweiterten humanitären Schutz für Migranten und Flüchtlinge einführen und das Aufnahmeverfahren ausbauen.

Felix Weiss von Sea-Watch allerdings ist skeptisch. Bislang habe sich in der Praxis noch nichts geändert. "Derzeit ist es so, dass die Seenotrettungsleitstellen überhaupt nicht mit uns arbeiten. Wir bekommen Anrufe, in denen die Offiziere uns sagen, dass sie gar nicht mehr mit NGOs arbeiten oder auch gar nicht mit uns reden. Wir haben in den vergangenen Tagen auch gesehen, wie Boote der Küstenwache an Holzbooten der Flüchtlinge einfach vorbeifahren und die Flüchtlinge erst aufnehmen, wenn sie in die Gewässer von Lampedusa einfahren."

Und das von den italienischen Behörden festgesetzte Seenotrettungsschiff "Sea-Watch 3" liegt weiterhin an der Kette vor dem sizilianischen Porto Empedocle - seit über drei Wochen.