1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Der Kampf um die liberale Demokratie in Europa

Bulgarien l Politologe Ivan Krastev
Ivan Krastev
1. Oktober 2021

Deutschland und Europa bereiten sich auf die Ära nach Angela Merkel vor. Die künftige Bundesregierung wird sich darauf konzentrieren müssen, illiberale Tendenzen in östlichen EU-Staaten zu bekämpfen, meint Ivan Krastev.

https://p.dw.com/p/414jf
Demonstrant, der in Warschau anlässslich des Besuchs von Viktor Orban ein Schild hochhält "Say No! to Orban's dictatorship"
Auch in Polen und Ungarn selbst regt sich Widerstand gegen den Kurs von Viktor Orban und Jaroslaw KaczynskiBild: Czarek Sokolowski/AP/dpa/picture alliance

"In der Mitte der Straße gibt es nichts außer gelben Streifen und toten Gürteltieren" - der Titel des Buches des US-Schriftstellers Jim Hightower von 1997 klingt heute wie eine Zustandsbeschreibung der politischen Landschaft der USA. Das Ergebnis der Bundestagswahl vom Sonntag zeigt, dass dieses inzwischen geflügelte Wort aus den USA auf Deutschland nicht zutrifft. Vielmehr wird auch die nächste Bundesregierung mit ziemlicher Sicherheit die "Mitte" repräsentieren.

In den vergangenen beiden Jahrzehnten haben die Deutschen, wenn sie zur Wahl gingen, eher gewählt als entschieden. Der Unterschied zwischen "entscheiden" und "wählen" ist trügerisch einfach, aber von grundlegender Bedeutung. Wir entscheiden, wenn die Alternativen sich ganz klar und grundsätzlich voneinander abgrenzen: Donald Trump gegen Joe Biden, Jaroslaw Kaczynski gegen Donald Tusk. Ansonsten wählen wir einfach.

Eine Wahl - keine Entscheidung

Am Sonntag haben die deutschen Wählerinnen und Wähler wieder einmal mehr gewählt als entschieden. Zwischen den großen Parteien gibt es zwar einige erkennbare Differenzen. Aber wenn es um die vier politischen Parteien geht, die eine Chance auf eine Beteiligung an der nächsten Regierung haben, dann liegen sie doch alle innerhalb des bestehenden liberalen Konsenses der Bundesrepublik.

Es scheint, dass Deutschland einen reibungslosen Übergang in die Ära nach Angela Merkel schafft, während die EU lernen muss, wie man in einer Welt ohne Merkel überlebt. Könnte es sein, dass eine neue Regierung in Berlin mehr Veränderungen in der europäischen Politik herbeiführen wird als in Deutschland? "NACH Merkel" und "OHNE Merkel" sind nämlich zwei sehr unterschiedliche Dinge.

Europa in der Nach-Merkel-Welt

Das European Council on Foreign Relations hat kurz vor der Bundestagswahl eine Meinungsumfrage durchgeführt. Diese ergab, dass bei einer hypothetischen Wahl zwischen Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron als fiktivem "EU-Präsidenten" eine klare Mehrheit der Europäer sich für die deutsche Bundeskanzlerin entscheiden würde.

Bulgarien l Politologe Ivan Krastev
DW-Gastkommentator Ivan KrastevBild: Nadezhda Chipeva

Merkel erwies sich als "die beste Lösung" für ihre Fans und als "das kleinere Übel" für die meisten ihrer Gegner. Man war sich einig, dass die scheidende Kanzlerin fähig ist, politische Gräben zu überbrücken und alle davon zu überzeugen, dass ein Kompromiss immer möglich ist. Sie verkörperte damit die ansonsten nicht existierende europäische Mitte.

Nach Merkels Abschied werden die tiefen politischen Spannungen, die unter der Oberfläche des zerbrechlichen Zusammenhalts Europas brodeln, wieder zum Ausbruch kommen. Dem künftigen deutschen Bundeskanzler wird sicherlich Merkels magische Fähigkeit fehlen, ansonsten unmögliche Deals auszuhandeln. Eine zentrale Gefahr ist, dass der Kulturkrieg zwischen Brüssel und den illiberalen Regierungen in Budapest und Warschau eskaliert.

Liberale Demokratie vs. autoritärer Populismus

In Deutschland unterscheiden sich die Freien Demokraten und die Grünen erheblich in der Steuerpolitik. Aber beide Parteien sehen die Verteidigung der Menschenrechte als entscheidend für ihre politische Identität an. Da sie auch die Parteien sind, die einen überproportionalen Anteil an jungen Wählern auf sich vereinigen konnten, sind die Rechte sexueller Minderheiten und die Unabhängigkeit der Justiz für sie von besonderer Relevanz.

Die Rhetorik Berlins in Bezug auf die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn dürfte damit schärfer werden. Und Brüssel hat bereits deutlich gemacht, dass die selbst erklärten "LGBT-freien" Städte in Polen keine EU-Fördermittel mehr erhalten werden. Im Gegenzug werden Ungarn und Polen ihren Anti-Brüssel- und Anti-Deutschland-Kampf verschärfen. Die Anhänger von Viktor Orban und PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski mögen vielleicht nicht glauben, dass der Teufel Prada trägt. Aber sie sind fest davon überzeugt, dass der Teufel in Deutschland für die Grünen oder die Freien Demokraten stimmt.

Wichtig für die künftige Bundesregierung

Meiner Meinung nach sollte die künftige deutsche Regierung beim Umgang mit den östlichen EU-Partnern mindestens drei Dinge im Blick behalten.

Erstens: Wenn es um liberale Werte geht, ist Europa kein homogener Ort. Budapest und Warschau liegen, was die politischen Präferenzen ihrer Einwohner und die Wahlergebnisse angeht, näher an Berlin und Hamburg als an den ländlichen Gebieten ihrer Staaten.

Zweitens: Wenn die deutschen Unionsparteien bei der Regierungsbildung außen vor bleiben, wird es keinen großen westeuropäischen Staat mehr geben, der aktuell von einer Mitte-Rechts-Regierung geführt wird. Die Ost-West-Kluft in Europa wird dann wie eine Rechts-Links-Kluft aussehen, obwohl es in Wirklichkeit um liberale Demokratie versus autoritären Populismus geht.

Drittens: Orban und Kaczynski lieben Kulturkriege, insbesondere wenn sie die Menschen davon ablenken, ihren korrupten Regierungsstil zu hinterfragen. Die liberale Opposition in den östlichen EU-Ländern glaubt jedoch, dass die Konzentration auf die Korruption die beste Strategie ist, um einen politischen Wandel zu erreichen.

Die künftige Politik Berlins gegenüber illiberalen Tendenzen in diesen Ländern sollte also eine Politik sein, die den liberalen Kräften dort hilft, Wahlen zu gewinnen.

Ivan Krastev ist Politikwissenschaftler und Vorsitzender des Center for Liberal Strategies in Sofia, Bulgarien. Er ist außerdem ständiger Mitarbeiter am Institute for Human Sciences  in Wien, Österreich.