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Politik

Erdogan will Millionen Kurden die Stimme nehmen

Türkei Banu Güven
Banu Güven
20. März 2021

Die zweitgrößte Oppositionspartei in der Türkei, die pro-kurdische HDP, soll verboten werden. Präsident Erdogan will seinen gefährlichsten Gegner vernichten, um seine Macht zu sichern, meint Banu Güven.

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Symbolbild Pro-Kurdische Partei HDP
HDP-Anhänger demonstrieren im September 2020 gegen die Haft von 82 Parteimitgliedern und MandatsträgernBild: Yasin Akgul/AFP

Die nächsten Wahlen in der Türkei werden die undemokratischsten Wahlen aller Zeiten sein. Denn der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und sein ultranationalistischer Koalitionspartner Devlet Bahçeli haben vor, die zweitgrößte Oppositionspartei im Parlament, die "Demokratische Partei der Völker" (HDP), bis dahin aus der politischen Szene auszuradieren.

Alles läuft nach Plan: In einer 650-seitigen Anklageschrift hat der Oberste Staatsanwalt in Ankara ein endgültiges Verbot der pro-kurdischen Partei beantragt. Der Vorwurf lautet, mit der Teilnahme an terroristischen Aktivitäten und Propaganda gefährde sie die nationale Integrität des türkischen Staates. Wie in den meisten politisch motivierten Verfahren ist auch hier das Urteil schon gefällt: Bald wird es keine HDP mehr geben. So möchte Erdoğan seinen stärksten politischen Gegner vernichten und eine Niederlage in den nächsten Wahlen verhindern.

Wahlentscheidendes Potenzial

Die HDP mit ihrem Potenzial von knapp sechs Millionen Stimmen hat Einfluss auf den Ausgang von Wahlen. Das haben die HDP-Wähler zuletzt bei den Kommunalwahlen 2019 bewiesen: Obwohl sich die Partei am oppositionellen Wahlbündnis "Allianz der Nation" offiziell nicht beteiligte, forderte sie ihre Wähler auf, deren Kandidaten zu unterstützen. Dadurch wurden die knappen, aber wichtigen Wahlsiege für die Opposition in Istanbul und Ankara erst möglich. Der HDP selbst gelang es damals, 65 Bürgermeister-Posten zu gewinnen. Doch von diesen sind nur noch sechs im Amt: 48 wurden durch von Ankara bestelle Zwangsverwalter ersetzt, andere durften die Position gar nicht erst antreten.

Türkei Banu Güven
Journalistin und Kolumnistin Banu GüvenBild: Privat

Erdoğan und Bahçeli wissen, dass ihnen die HDP bei den nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die 2023 stattfinden sollen, erneut einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Deswegen wollen die diesen politisch gefährlichen Gegner jetzt endgültig beseitigen. Denn das bisherige Bemühen, die HDP wegen ihrer historischen Verbindung zur kurdischen Volksbewegung und ihrer angeblichen Liaison mit der verbotenen Arbeiterpartei PKK zu verteufeln, hat nichts genützt. Auch in den jüngsten Umfragen bleiben die Wähler ihrer Partei treu und halten die HDP weiterhin sicher über der nationalen Sperrklausel von zehn Prozent.

Der Staatsanwalt will nun besonders gründlich vorgehen und beantragt auch die Beschlagnahme des gesamten Parteivermögens der HDP, um die Gründung einer Nachfolgepartei zu verhindern. Darüber hinaus fordert er auch ein dauerhaftes Politikverbot für 687 HDP-Mitglieder. In dieser langen Liste befinden sich Abgeordnete, Mitglieder des Vorstands, praktisch alle führenden Köpfe der Partei.

Erdoğans Angst vor einem Häftling

Zu diesen zählen auch die früheren stellvertretenden Parteivorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş. Beide sind seit 2016 inhaftiert. Demirtaş kandidierte 2018 aus der U-Haft gegen Erdoğan und bekam 8,4 Prozent der Stimmen - nur ein gutes Prozent weniger als 2014, obwohl er gar keinen Wahlkampf machen konnte. Zwar hat inzwischen sogar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine Freilassung nach vierjähriger U-Haft verlangt - doch Erdoğan kümmert dieses Urteil bisher nicht. Jetzt will er ihn als politischen Gegner endgültig ausschalten.

Der türkische HDP-Abgeordnete Omer Faruk Gergerlioglu gestikuliert im Plenarsaal des Parlaments in Ankara. Um ihn herum andere Abgeordnete, die die Szene mit dem ihren Smartphones filmen
Omer Faruk Gergerlioglu hat gerade im Plenarsaal erfahren, dass ihm sein Abgeordnetenmandat entzogen worden istBild: AP Photo/picture alliance

Das Verbotsverfahren wurde am selben Tag eingeleitet, an dem dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu sein parlamentarisches Mandat entzogen wurde. Gergerlioğlu, ist ein unermüdlicher Verteidiger der Menschenrechte. Durch seine Social Media-Posts und Online-Sendungen über Menschenrechtsverletzungen sorgt er regelmäßig für große Aufmerksamkeit. Dass er die willkürlichen Durchsuchungen von komplett entkleideten Frauen in Polizeigewahrsam und U-Haft aufgedeckt hat, störte die Regierung. Jetzt soll Gergerlioğlu wegen des Retweets einer Nachricht vor fünf Jahren für zweieinhalb Jahre inhaftiert werden. Doch Gergerlioğlu verlässt aus Protest gegen dieses Verfahren das Parlamentsgebäude nicht mehr, er schläft sogar dort. Andere HDP-Abgeordnete bleiben mit ihm dort, um ihn vor Verhaftung zu schützen.

Diese Bilder erinnern an die gewaltsamen Festnahmen von vier Abgeordneten der damaligen "Partei der Demokratie" (DEP) im Jahr 1994. Die DEP war einer der vielen Vorgänger-Parteien der HDP, die in vergangenen Jahrzehnten vom Verfassungsgericht verboten worden sind. Aber keiner türkischen Regierung ist es bisher gelungen, die Existenz der Kurden und ihren politischen Willen zu zerstören. Und auch kein Gerichtsurteil wird an dieser Tatsache etwas ändern.

 

Die türkische Journalistin und Fernsehmoderatorin Banu Güven schreibt für verschiedene deutsche und türkische Medien. Seit 2018 lebt und arbeitet sie in Deutschland.

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Banu Güven Journalistin und Kolumnistin Banu Güven