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"Die Veränderungen sind auf dem Weg"

Silke Bartlick
8. Oktober 2018

Davit Gabunia präsentiert auf der Frankfurter Buchmesse seinen Roman "Farben der Nacht". Mit der DW spricht er über Veränderungen - in seinem Land und im Rollenverständnis der georgischen Männer und Frauen.

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Davit Gabunia
Bild: Nodar Ladaria

In Georgien ist Davit Gabunia (geb. 1982) eine Berühmtheit: Er hat Shakespeare, Strindberg und "Harry Potter" übersetzt, eine TV-Serie geschrieben und gilt als wichtigster Dramatiker des Landes. Alle bedeutenden Theaterpreise Georgiens hat er bereits erhalten. Sein gefeierter erster Roman "Farben der Nacht" ist im August auch auf Deutsch erschienen (Rowohlt Verlag)  - ein vielschichtiger Blick auf die kleine Kaukasusrepublik, raffiniert und spannend erzählt.

Deutsche Welle: Ihr Roman "Farben der Nacht" spielt im Jahr 2012. Was bedeutet dieses Jahr für Georgien?

Buchcover Farben der Nacht von Davit Gabunia
Bild: Rowohlt Verlag

Davit Gabunia: Es bedeutet sehr viel. Damals gab es viel Ärger und große Erwartungen bei der Mehrheit der Bevölkerung. Und politisch gab es einen großen Wechsel, denn die machthabende Partei, die "National Movement" genannt wurde, wurde von der vereinten Kraft der Opposition verdrängt. Sie haben diese Vereinigung gegründet, die sich "Georgischer Traum" nannte und sich aus verschiedenen Parteien zusammensetzte. Gemeinsam haben sie für eine neue Regierung gesorgt. Es ging darum, ein brutales Regime abzusetzen, das Gefangene misshandelt hat, aber darüber spricht heute niemand mehr. 

DW: Wie erklären Sie sich das? Warum interessiert sich heute niemand mehr für das Schicksal der Gefangenen?

Davit Gabunia: Möglicherweise hat das etwas mit den ständigen Enttäuschungen der Gesellschaft zu tun. Seit 1991 gibt es Unruhen, politische Unruhen, bewaffnete Konflikte, Kriege, Armut und so weiter. Vielleicht sind die Menschen enttäuscht, weil sich nichts entscheidend verändert. Natürlich gibt es Veränderungen, wir leben heute viel besser als in den 90er-Jahren. Das kann man gar nicht vergleichen, das Ausmaß der Armut damals und unser Leben heute. Aber unabhängig davon ist Politik etwas, das große Debatten provoziert und dann schnell wieder vergessen wird. 

DW: Vor 1991 war Georgien Teil der Sowjetunion, war von den Russen okkupiert. Lastet zu viel Vergangenheit auf den Menschen?

Davit Gabunia: Ich denke, dass das Sowjetsystem das Land stark beschädigt und verdorben hat. Es geht um mehr als um Besatzung. Georgien hat ein sehr spezielles Verhältnis zu Russland. Wir wurden von Russland ja schon vor der Sowjetunion beherrscht, während des gesamten 19. Jahrhunderts. Und heute gibt es immer noch eine ganz besondere Hassliebe zu Russland. Für sehr viele Menschen ist ganz klar, dass die Gefahr aus dem Norden kommt, wie sie sagen. Aber genau so viele oder möglicherweise auch noch mehr glauben das nicht.

Georgien Anhänger der Opposition feiern Wahlsieg
Oktober 2012, Anhänger der Opposition feiern den WahlsiegBild: AFP/Getty Images

Es ist schwer, das zu erklären, aber über Jahrzehnte war Russland das einzige Ausland, das es für uns gab, das einzige größere Land, die einzige bessere Alternative - so die Wahrnehmung der sowjetischen Georgier. Moskau oder St. Petersburg waren Traumziele, die großen Zentren, wo alles passiert. Alles Gute und Schöne. Und man konnte dort auch schöne Kleidung kaufen. In den 80er-Jahren war ich noch ein Kind, aber ich erinnere mich daran. Das lässt sich nicht so leicht aus der Erinnerung der Menschen löschen. Und nicht nur aus der Erinnerung. Denn ich glaube, dass es tiefer geht. Es gibt eine gewisse Mythologie über die russisch-georgische Freundschaft, die in diesem Land erschaffen wurde, und die liegt tiefer als die Erinnerungen älterer Menschen.

DW: Kommen wir zu Ihrem Roman "Farben der Nacht" zurück. Sind seine Protagonisten typisch für dieses Land?

Davit Gabunia: Das ist eine schwierige Frage! Der ältere Mann, der Beamte, der ist es. Der hohe Sicherheitsbeamte, der ein Doppelleben führt. Seit ganz jungen Jahren hat er homosexuelle Vorlieben, aber die gesteht er nicht mal sich selbst ein. Insofern ist er typisch. Ich wollte einen Charakter und eine Biografie zeichnen, die wiedererkennbar sind. Denn in Georgien heißt es immer, es gibt keine Homosexuellen in der Politik. Und das ist natürlich eine Lüge.

Ich versuche eigentlich, nicht an das große Ganze hinter den Geschichten zu denken. Vielleicht ist das falsch, vielleicht sollte ich das. Aber ich glaube, dass Ideen oder Tendenzen oder so etwas in der Luft liegen, in der vergifteten Luft dieser Stadt (Tbilissi, Anm. d. Redaktion). Und man inhaliert sie einfach und sie fließen in die Geschichten ein, ohne dass man es bemerkt. Deshalb stimmt es wohl, dass meine Figuren Kinder dieser geographischen Region sind, Kinder dieser Gesellschaft, die reflektieren, was hier und in der Gesellschaft im Allgemeinen passiert. Aber mir geht es nicht darum, über meine Zeit zu schreiben. Es ist nicht beabsichtigt, es passiert einfach.

DW: Ihr Roman ist ein Krimi und ein Kammerspiel, der beiläufig vieles anspricht: die große Politik, Homophobie und das Geschlechterverhältnis. Sura, der Protagonist, und seine Frau versuchen, modern zu leben: Sie arbeitet, er kümmert sich um die Kinder. Ist das ungewöhnlich in Georgien?

Davit Gabunia:  Als das Sowjetsystem in den 90er-Jahren zusammengebrochen ist, gab es nichts zu essen und Frauen waren gezwungen, sich zu emanzipieren. Das war eine erzwungene ökonomische Emanzipation. Die Frauen mussten aufhören, sich nur um die Versorgung der Familie zu kümmern, um das mal so zu sagen. Sie sind dann aus ihren Häusern gekommen und haben kleine Jobs angenommen. Und daraus ist in mehr als zwei Jahrzehnten etwas geworden, das wir heute als Emanzipation der Frauen erleben.

Die traditionellen Rollen, die traditionelle Machtverteilung, bei der Männer die Versorger und Frauen Hausfrauen sind, das war in den 70er- und 80er-Jahren und während der gesamten Sowjetzeit typisch. Aber das ist vorbei und zurückgeblieben sind verunsicherte Männer, die ihre archaischen Funktionen als starker Macho, Jäger und Hauptverdiener verloren haben. Jetzt sind sie völlig durcheinander und wissen nicht, was sie tun sollen.

Georgien Tbilisi Straßenszene
Tbilisi 2018Bild: DW/S. Bartlick

Georgien war so sehr ein traditionelles Land, mit starken patriarchalischen Strukturen. Die Einteilung in männlich und weiblich ist immer noch da. Und sie ist immer noch sehr ausgeprägt. Man kann sagen, sie ist überall. Vielleicht ist es deshalb so schwer für uns, all diese Veränderungen durchzumachen. Denn sie kommen, sie sind auf dem Weg. Die Grenzen sind offen, der Eiserne Vorhang ist weg, es gibt das Internet, man bekommt Informationen und kann reisen. Jetzt können wir sogar visumfrei in den Schengen-Raum. Das alles führt dazu, dass das Leben sich verändert und es wird nicht mehr so sein wie zuvor.