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Getreide-Poker mit ungewissem Ausgang

Thomas Kohlmann
10. August 2023

Obwohl Russland das Getreideabkommen mit der Ukraine aufgekündigt hat, sind die Preise nicht durch die Decke gegangen, wie nach Kriegsbeginn. Doch jetzt rückt der russische Getreideexport in den Fokus.

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Ein Mähdrescher erntet Weizen im russisch besetzten Teil der Region Saporischschja im Süden der Ukraine
Weizenernte im russisch besetzten Teil der Region Saporischschja im Süden der Ukraine Bild: ALEXANDER ERMOCHENKO/REUTERS

An den weltweiten Getreidemärkten herrscht weitgehend Ruhe, obwohl Russland vor gut drei Wochen das von der Türkei und der UNO vermittelte Getreideabkommen aufgekündigt hat. Denn heute ist die Situation anders als nach dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022.

Diesmal fehle der Überraschungseffekt, weil die internationalen Getreidemärkte schon länger mit der Kriegssituation konfrontiert sind, erklärt Thorsten Tiedemann vom Hamburger Handelshaus Getreide AG im Gespräch mit der DW. "Außerdem war immer klar, dass das Getreideabkommen von der russischen Seite in Frage gestellt wird. Dass es wegbricht, ist keine komplette Überraschung bei den Protagonisten im Markt. Viele Leute stellen sich jetzt auf alternative Exportwege ein", erklärt der Manager. Tiedemann ist seit vielen Jahren im Geschäft mit Weizen und Ölsaaten - früher auch als Händler an der weltgrößten Warentermin-Börse Chicago Board of Trade (CBOT) in den USA.

"Momentan exportiert Russland nach wie vor viel Weizen. Ob das so bleibt, müssen wir sehen. Schließlich sind am vergangenen Wochenende auch russische Häfen zu Risikofahrtgebieten erklärt worden", sagt Tiedemann.

Wladimir Putin mit zwei afrikanischen Vertretern auf dem Afrika-Gipfel in St. Petersburg Ende Juli
Auf dem Afrika-Gipfel in St. Petersburg versprach Wladimir Putin Ende Juli kostenlose Getreidelieferungen für Afrikas Hungerregionen Bild: Pavel Bednyakov/POOL/AFP/Getty Images

Wie sicher ist der russische Getreideexport?

Gerade ist überall auf der Nordhalbkugel Erntezeit und es steht genug Getreide zur Verfügung, um die Nachfrage zu decken. Außerdem haben wichtige Importländer ihre Lagerbestände erhöht. Die Weigerung Russlands, das Getreideabkommen zu verlängern, sei zwar keine erfreuliche Nachricht, zitierte unlängst die Nachrichtenagentur Reuters den ägyptischen Versorgungsminister Ali Al Moselehi. "Ägypten ist jedoch in der Lage, seine Einkäufe zu diversifizieren und seine Weizenreserven reichen zur Zeit für 5,2 Monate aus."

Nach den Angaben des Ministers hat die ägyptische Regierung von einheimischen Bauern 3,8 Millionen Tonnen gekauft. Außerdem berichten ägyptische Medien über eine erfolgreiche Diversifizierung der Weizenimportquellen auf mehr als 20 Länder. Neben russischem und ukrainischem Weizen kaufte Ägypten unter anderem Getreide aus Frankreich, Bulgarien, den USA, Indien und Rumänien.

Auch in der Türkei geht man nicht von einer Mangellage im Land aus. Die türkischen Weizenproduzenten rechnen damit, trotz rückläufiger Anbauflächen für Weizen im laufenden Jahr die Produktion um 3,8 Prozent auf 20,5 Millionen Tonnen zu erhöhen. Da die Türkei das größte Exportland von Mehl ist, sehen die Produzenten die steigenden Preise sogar als eine Chance, in diesem Jahr hohe Gewinne einzufahren.

Gürsel Erbap, Vorstandsvorsitzender von Doruk Un, einem Großlieferanten des Welternährungsprogramms (WFP) der Vereinten Nationen unterstrich im Interview mit der DW, die weltweite Teuerung werde für die türkischen Landwirte mehr Gewinn bedeuten. Nach Angaben von Hasan Hacihaliloglu, CEO von Taban Gida, hat man bereits mit dem Export von Hartweizen und Mais begonnen. Der Getreide- und Nahrungsmittelkonzern Taban Gıda hat einen Marktanteil von rund 20 Prozent in der Türkei und beliefert fast 20 Länder auf der ganzen Welt mit Weizen und anderen Getreiden sowie Futtermitteln und Ölsaaten.

Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf Importländer

Seit dem Krieg wird in vielen klassischen Importländern allerdings auch weniger Weizen konsumiert, weil für viele Menschen dort die Preise einfach zu hoch sind, erklärt Thorsten Tiedemann die aktuell schwächere Nachfrage an den Märkten. "Arme Länder mit schwachen Währungen haben offenbar Schwierigkeiten, Getreide zu importieren."

Andere Akteure auf dem globalen Markt, wie das Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen, haben den Preisrückgang nach den Rekorden im vergangenen Jahr genutzt, um ihre Lagerbestände aufzustocken. Nach Angaben von Brenda Kariuki habe man bereits 80 Prozent der Weizenvorräte für Ostafrika beschaffen können. Die Sprecherin des WFP-Büros in Nairobi zeigte sich gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zuversichtlich, künftig genügend Getreide aus anderen Ländern beziehen zu können - zur Not auch zu höheren Preisen.

Binnenvertriebene in Dolow, Somalia, warten auf Nahrungsmittelspenden
Binnenvertriebene in Somalia sind besonders auf Nahrungsmittel des World Food Programme (WFP) angewiesenBild: Hassan Ali ELMI/AFP

In Ostafrika sind nach UNO-Angaben mehr als 23 Millionen Menschen von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. Trotzdem ist es dem WFP zuletzt gelungen, ein Drittel seiner Nahrungsmittel von Kleinbauern aus der Region zu beschaffen. Weizen habe man wegen der gestiegenen Preise durch Mais und Sorghumhirse aus örtlichem Anbau ersetzt. Daneben habe man mehr Pflanzenöl in der Region eingekauft, so Kariuki.

China, die Türkei und europäische Länder profitieren am meisten

Es sind aber nicht die armen Länder und Hungerregionen, die am stärksten von den 33 Millionen Tonnen Getreide profitiert haben, die im Rahmen des Getreide-Deals aus der Schwarzmeer-Region geliefert wurden. Nur ein Prozent der Menge kam direkt in die Hungergebiete von Äthiopien, Kenia und Somalia am Horn von Afrika, erklärt Brenda Kariuki. Das heißt: Von rund 1000 Schiffs-Transporten mit 33 Millionen Tonnen Getreide kamen nur 13 Schiffe mit 313.000 Tonnen an Bord in Ostafrika an. Größte Abnehmer für ukrainisches Getreide waren China, Spanien, die Türkei oder Italien. Allerdings drückten die ukrainischen Exporte den Weltmarktpreis und ließen so auch ärmere Länder indirekt profitieren.

Eine gewisse Nervosität herrscht trotzdem nach dem russischen Aus für den Schwarzmeer-Getreide-Deal. "Die Volatilität an den Terminmärkten ist nach wie vor vergleichsweise hoch", räumt Thorsten Tiedemann ein. Aber weil die Situation für Konsumenten, Importländer und Händler nicht komplett überraschend gekommen sei, hofft er darauf, "dass die Ausschläge vielleicht in diesem Jahr nicht mehr ganz so gravierend sind".

Putins voreiliges Versprechen?

Erst vor kurzem hatte der russische Präsident Wladimir Putin afrikanischen Ländern vollmundig kostenlose Lieferungen aus russischer Ernte angekündigt, um Hungerkrisen zu verhindern. Doch nach den ukrainischen Schwimmdrohnen-Angriffen auf russische Schwarzmeer-Häfen wie Novorossiysk sind jetzt auch die russischen Getreideexporte alles andere als sicher.

Kriegsschiffe im russischen Schwarzmeer-Hafen von Noworossijsk am Tag der Marine
Im Fadenkreuz der Ukraine: Der russische Hafen Noworossijsk am Schwarzen Meer ist einer der zentralen Ausfuhrhäfen für russischen WeizenBild: Vitaly Timkiv/SNA/IMAGO

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi hat mittlerweile den Druck auf Moskau erhöht und weitere Angriffe auf russische Schiffe und Häfen angekündigt, solange Russland ukrainische Getreidehäfen mit Raketen und Drohnen attackiert.

Höhere Versicherungen und Chartergebühren für Russlands Exporte

Bereits jetzt, eine knappe Woche nach dem ukrainischen Angriff auf den russischen Hafen Noworossijsk, meiden internationale Frachtschiffe die russischen Häfen am Asowschen und am Schwarzen Meer, über die nahezu der gesamte Getreideexport Russlands abgewickelt wird. Im Rekorderntejahr 2022 waren das über 100 Millionen Tonnen Weizen, in diesem Jahr wird mit Mengen um die 88 Millionen Tonnen gerechnet.

Russlands staatliche Handels-Akteure haben zunehmend Probleme, große Schiffe zu chartern, um russisches Getreide zu verschiffen. Versicherer verlangen für Frachtschiffe, die russische Schwarzmeerhäfen anlaufen, bereits Zusatzprämien von mehreren Zehntausend Dollar pro Tag, werden anonyme Insider von Reuters zitiert.

Auch die Reeder fordern für das gestiegene Risiko beim Anlaufen russischer Häfen satte Aufpreise. Selbst für die noch unversicherte Fracht würden bei der Verschiffung aus russischen Häfen täglich bis zu 10.000 Dollar mehr berechnet als aus vergleichbaren Schwarzmeerhäfen der EU- und NATO-Mitglieder Rumänien und Bulgarien, teilte ein weiterer Insider mit.

Russland versucht nach Angaben von Branchenexperten, diese Transportengpässe mit einer "Schattenflotte"  zu überbrücken. Es handle sich dabei meist um ältere Schiffe von Betreibern aus der Türkei oder China. Wie aus Daten der Schifffahrtsplattform Shipfix hervorgeht, auf die sich Reuters beruft, ist die Zahl der Charteranfragen aus Russland im Juli auf 257 gestiegen, was einem Anstieg um 40 Prozent seit Juni entspricht und einer Verdopplung seit Juli 2022.

Drehen an der Eskalationsschraube

Nach den russischen Angriffen auf die Getreidelager im ukrainischen Hafen Odessa läuft der Export verstärkt über die ukrainischen Donauhäfen Reni und Ismail, die aber ebenfalls im Fadenkreuz russischer Raketen und Drohnen liegen.

Ein ukrainischer Mitarbeiter der ukrainischen Staatsanwaltschaft für die Verfolgung von Kriegsverbrechen begutachtet die Zerstörungen nach einem russischen Drohnen-Angriff auf den ukrainischen Donauhafen Ismail am 2. August 2023
Schadensaufnahme nach dem russischen Drohnen-Angriff auf den ukrainischen Donauhafen Ismail am 2. August 2023Bild: Prosecutor General's Office/Telegram/REUTERS

Wenn Angriffe wie Anfang August auf den ukrainischen Donauhafen Ismail - direkt an der Grenze zu Rumänien - weiter gehen, könnte das die Weltmarktpreise wieder nach oben treiben. "Die Donau ist dort die Grenze", erinnert Tiedemann. Das sei ein sehr riskantes Spiel der Russen, betont er und meint damit einen möglichen Einschlag russischer Raketen auf dem Territorium des NATO-Mitglieds Rumänien. In der Nacht des russischen Angriffs hätten sich zahlreiche Schiffe fluchtartig auf das rumänische Flussufer gerettet, heißt es in der Branche.

Doch mittlerweile sorgt auch die ukrainische Bedrohung der russischen Schwarzmeerhäfen für Nervosität. Immerhin komme aus den russischen Häfen dort ein Viertel der weltweiten Weizenexporte, unterstreicht Tiedemann.

Noch lebt der Markt in der Gewissheit, dass nach den Rekordernten in Australien und Russland im Jahr 2022 auch in diesem Jahr weltweit genug Getreide zur Verfügung steht. Durch eine weitere Eskalation des Krieges im Schwarzen Meer könnte sich diese Gewissheit aber schon bald in Luft auflösen. Oder im besten Fall die Kriegsparteien wieder zu einer Neuauflage des Getreide-Deals zwingen.