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Glaube

Gott in Stalingrad?

25. Januar 2023

Vor 80 Jahren endete die Schlacht von Stalingrad. Der Untergang der 6. Armee war der Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs. Viele Soldaten fragten sich: Wo bleibt Gott in dieser Hölle an der Wolga?

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Bundeswehr zeigt "Stalingrad"-Ausstellung
Bild: Oliver Killig/dpa/picture alliance

Stalingrad – allein der Name dieser Stadt weckt furchtbare Erinnerungen. Dort an der Wolga ging vor 80 Jahren eine der blutigsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs zu Ende. Mehr als 1 Million Soldaten und Zivilsten starben: Russen, Deutsche und die mit der Wehrmacht verbündeten Rumänen, Ungarn und Italiener.

Die strategische Bedeutung der Stadt, die heute Wolgograd heißt, war vergleichsweise gering. Aber Stalingrad stand modellhaft für das Sowjetsystem. Und deshalb wollte Hitler sie in seinem Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg unbedingt einnehmen.

Seit Ende November 1942 hatte die Rote Armee die deutschen Soldaten in der schon weitgehend zerstörten Industriemetropole eingeschlossen. Hitler verbot jeden Ausbruchsversuch. „Haltet aus! Der Führer haut euch raus!“ Stalingrad sollte unter allen Umständen gehalten werden. Und so begann das lange und sinnlose Sterben der 6. Armee. Bei Temperaturen von bis zu minus 30 Grad kämpften Deutsche und Russen um jede Fabrik, jeden Straßenzug, jedes Gebäude. Manchmal saßen die Russen im Keller eines Hauses, die Deutschen im Erdgeschoss und unterm Dach. Bis zur Kapitulation Anfang Februar 1943 gingen Zehntausende im Kessel von Stalingrad elend zugrunde. Erschossen, verhungert, erfroren. Angesichts des unermesslichen Leids hatten fast alle den Glauben an Hitler und den Nationalsozialismus verloren. Und wie war es mit dem Glauben an Gott? Die meisten Soldaten kamen doch aus christlichen Familien.

Viele Feldpostbriefe sind erschütternde Zeugnisse für die Verzweiflung der Männer, die sich auch von Gott verlassen fühlten. Ein Soldat schreibt in einem Brief an seinen Vater, einen evangelischen Pfarrer: „In Stalingrad die Frage nach Gott stellen, heißt sie zu verneinen. Ich muss Dir das sagen, lieber Vater (…) Und doppelt bedauere ich meine Worte, weil es meine letzten sein werden, und ich hiernach keine Worte mehr sprechen kann, die ausgleichen könnten und versöhnen. (…)

Ich habe Gott gesucht in jedem Trichter, in jedem zerstörten Haus, an jeder Ecke, bei jedem Kameraden, wenn ich in meinem Loch lag, und am Himmel. Gott zeigte sich nicht, wenn mein Herz nach ihm schrie. Die Häuser waren zerstört, (…) auf der Erde war Hunger und Mord, vom Himmel kamen Bomben und Feuer, nur Gott war nicht da. Nein, Vater, es gibt keinen Gott. (…)

Und wenn es doch einen Gott geben sollte, dann gibt es ihn nur bei Euch, in den Gesangbüchern und Gebeten, den frommen Sprüchen der Priester und Pastöre, dem Läuten der Glocken und dem Duft des Weihrauchs, aber in Stalingrad nicht.“1

Und doch gab es inmitten dieses Grauens auch die Erfahrung von Nähe und Geborgenheit. So scharten sich am Heiligen Abend einige Soldaten in ihrem Bunker um das Bild einer Madonna mit Kind. Gemalt in der Hölle von Stalingrad. Der Pfarrer und Arzt Kurt Reuber hatte es mit Kohle auf die Rückseite einer russischen Landkarte (1,30 m x 0,90 m) gezeichnet. Maria hält ihren Neugeborenen im Arm, umfangen von zwei schützenden Händen. Am rechten Rand liest man die Worte „Licht, Leben, Liebe“.

In einem Brief an seine Frau schreibt Reuber, dass seine Kameraden das Bild im Schein eines brennenden Holzscheits immer wieder betrachteten. „Wenn man unsere Lage bedenkt, in der Dunkelheit, Tod und Hass umgehen - und unsere Sehnsucht nach Licht, Leben, Liebe, die so unendlich groß ist, in jedem von uns. (…) Und am Ende wird es dann Weihnachten, und dann tritt die Madonna vor uns hin.“2

Zeilen wie diese belegen: Es gibt keinen gott-losen Ort auf der Welt. Auch Stalingrad war kein solcher Ort. „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Ps 22,2; Mt 27,46) Manchmal scheint Gott seltsam abwesend zu sein, auf Golgotha, in Stalingrad oder wo auch immer. Und doch bleibt zuletzt die Hoffnung, dass er da sein wird. Und diese Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht, so hat das Vaclav Havel einmal formuliert.

Die Schlacht von Stalingrad war nicht nur der Wendepunkt des Krieges. Sie wurde auch zu einem Synonym für das unermessliche Leid, das kriegerische Gewalt über die Menschen bringt. Und wer die furchtbaren Bilder aus Mariupol, Butscha, Irpin oder anderen Orten der Ukraine sieht, der erkennt, dass die Schrecken eines so verbrecherischen Krieges nun auch in Europa wieder gegenwärtig sind.

Reubers „Stalingradmadonna“ hat das Inferno überdauert. Ein verwundeter Offizier, der mit einer der letzten Maschinen ausgeflogen wurde, rettete die Zeichnung. Kurt Reuber starb ein Jahr später in russischer Kriegsgefangenschaft. Von den rund 300.000 Soldaten der 6. Armee kehrten nur 6000 in ihre Heimat zurück.

Das Original der „Stalingradmadonna“ befindet sich heute in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Je eine Kopie verwahrt die Kathedrale des von der deutschen Luftwaffe zerbombten Coventry und eine russisch-orthodoxe Kirche in Wolgograd.

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1: zit. nach: http://www.389id.de/Briefe%20aus%20Stalingrad.htm

2: zit. nach: http://bistummainz.de/gesellschaft/aktuell/nachrichten/nachricht/Licht-Leben-Liebe-00001/

 

Autor: Andreas Britz

Jahrgang 1959; Lehrer für Katholische Religion und Geschichte am Johann-Wolfgang-Goethe-Gymnasium im südpfälzischen Germersheim; Regionaler Fachberater für Katholische Religion an den Gymnasien und Integrierten Gesamtschulen in der Pfalz; seit 1996 Autor von Verkündigungssendungen im Auftrag des Bistums Speyer in SWR und Deutschlandfunk.