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Politik

Ist Polen auf dem Weg aus der EU?

Barbara Wesel
8. Oktober 2021

Nach dem Urteil des polnischen Verfassungstribunals zeigt sich das politische Brüssel schockiert. Die Regierung in Warschau begebe sich auf den Weg in den Polexit, lautet die Befürchtung. Aus Brüssel Barbara Wesel.

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Polnische Flagge und EU Flagge
Bild: picture-alliance

Seit dem Sommer war der Richterspruch des Verfassungstribunals in Warschau erwartet und das Schlimmste befürchtet worden. Dennoch reagieren EU-Institutionen, quer über die Parteigrenzen des Europaparlaments hinweg, und Europarechtsexperten jetzt schockiert auf die Entscheidung vom Donnerstag, die das Vertragsrecht der EU für unvereinbar mit der polnischen Verfassung erklärt. Die Einschätzungen laufen darauf hinaus, dass sich Polen mit diesem Urteil auf den Weg in den Polexit begibt, einen Austritt aus der EU.

Die EU beruht auf gemeinsamen Rechtsgrundsätzen

Der Präsident des Europaparlaments, David Sassoli, erklärte, das Urteil könne nicht ohne Folgen bleiben. "Der Vorrang von EU-Recht muss unbestritten sein", schrieb er. Wer gegen diesen Grundsatz verstoße, bedrohe eines der Gründungsprinzipien der EU. "Wir rufen die EU-Kommission auf, die notwendigen Schritte zu unternehmen."

Die EU-Kommission, die als Hüterin der europäischen Verträge jetzt am Zug ist, erklärte, dass der zunächst mündlich vorgetragene Richterspruch ernsthafte Bedenken mit Blick auf den Vorrang von EU-Recht und die Autorität des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg auslöse.

Sie stellte noch einmal klar, dass die EuGH-Urteile bindend für alle EU-Mitgliedsländer sind, einschließlich deren nationaler Gerichte. Die Kommission will die Auswirkungen des Urteils analysieren und werde "nicht zögern, ihre  Möglichkeiten aus den EU-Verträgen einzusetzen", betonte der zuständige Kommissar Didier Reynders. Das scheint ein klarer Hinweis darauf, dass sich das seit Jahren dahinschleppende Verfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge jetzt beschleunigt wird. Mit dieser Vorschrift wird ein schwerwiegender Bruch der Rechtsstaatlichkeit festgestellt, der zum Entzug der Stimmrechte eines Mitgliedslandes führen kann.

Bislang wollten sowohl die Kommission als auch der Rat, die Vertretung der EU-Mitgliedsländer, den politischen Showdown mit Polen und einen Bruch vermeiden. Dies könnte sich nach dem Urteil aus Warschau ändern, das in Brüssel als eine Art Kriegserklärung aufgefasst wird. "Die EU ist eine Gemeinschaft der Werte und des Rechts, die in allen Mitgliedsstaaten anerkannt werden müssen", fügte die Kommission in ihrer Reaktion noch hinzu.

"Genug ist genug"

"Es ist schwer zu glauben, dass die PiS-Regierung behauptet, sie wolle nicht aus der EU austreten. Sie handelt nach dem Gegenteil. Genug ist genug", schrieb Jeroen Lenaers, EVP-Sprecher im Rechtsausschuss des Europaparlaments. Das Urteil sei ein Angriff gegen die ganze EU, die Regierung in Warschau habe ihre Glaubwürdigkeit verloren.

"Indem er erklärt, dass die EU-Verträge nicht mit polnischem Recht vereinbar sind, hat der illegitime Verfassungsgerichtshof das Land auf den Weg zum Polexit geführt." Das Tribunal in Warschau wird von den EU-Institutionen nicht als legitim anerkannt, weil die Regierung es mit ihr genehmen Richtern besetzt hat. Das von der PiS-Regierung geänderte Richterrecht in Polen wurde bereits durch eine Reihe von EuGH-Urteilen für rechtswidrig erklärt.

"Die EU-Staaten dürfen nicht tatenlos dabei stehen, wenn die Rechtsstaatlichkeit in Polen weiter abgebaut wird", unterstrich Lenaers. Das gelte auch für die EU-Kommission, die alle Instrumente einsetzen müsse, um nicht die "Autokraten in Warschau" zu unterstützen. Damit verweist die einflussreiche EVP-Fraktion auf die Möglichkeit, Polens EU-Gelder einzufrieren. Die Zusage für die Sondermittel aus dem Corona-Fonds wurde von Brüssel bereits auf Eis gelegt.

"Für Polen gibt es zwei Möglichkeiten"

"Ein schwarzes Szenario in Polen wird Wahrheit", erklärte die Fraktion der Sozialisten. Die Kommission müsse jetzt den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus auslösen und ein Vertragsverletzungsverfahren starten.

Die deutsche Europaabgeordnete und SPD-Politikerin Katarina Barley
Die deutsche Europaabgeordnete und SPD-Politikerin Katarina BarleyBild: Getty Images/AFP/I. Fassbender

Die Abgeordnete Katarina Barley fügte hinzu, dass die polnische Regierung dieses Urteil durch ihre umstrittene Justizreform gründlich vorbereitet habe. Auch sie forderte Konsequenzen, ebenso wie ihr Fraktionskollege Jens Geier: "Wenn die Rechtsgemeinschaft in der EU nicht mehr gegeben ist, löst sie sich auf. Für Polen gibt es jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder wird die polnische Verfassung mit europäischem Recht in Einklang gebracht, oder Polen muss die EU verlassen."

"Nicht länger tatenlos zusehen"

Besonders aufgebracht sind die Grünen im Europaparlament, die seit Jahren das Abdriften Polens von europäischen Regeln kritisieren. "Die Regierungen der EU dürfen nicht länger tatenlos zusehen, wie die polnische Regierung versucht, die Regeln der Demokratie (…) umzuschreiben", erklärte Terry Reintke, Schattenberichterstatterin für die Rechtsstaatlichkeit in Polen. Das laufende Artikel-7-Verfahren müsse jetzt umgehend fortgesetzt werden.

Der stellvertretende Vorsitzende im Rechtsausschuss, Sergey Lagodinsky, kommentierte: "Die Entscheidung aus Warschau ist in erster Linie ein Schlag ins Gesicht der polnischen Bürger." Sie würden damit den Schutz durch das EU-Recht verlieren, kommentiert der Grünen-Abgeordnete. Der illegitim zustandegekommene polnische Verfassungsgerichtshof zerstöre dessen Wirksamkeit, die Kommission müsse endlich alle Mittel dagegen anwenden, auch die Aussetzung von Geldern durch den sogenannten Konditionalitätsmechanismus.

Daniel Freund, Grünen-Abgeordneter im Europaparlament
Der Grünen-Abgeordnete Daniel Freund fordert KonsequenzenBild: DW/B. Riegert

Und der Grünen-Abgeordnete Daniel Freund erklärte: "Schockierend. Polen verabschiedet sich von der europäischen Rechtsordnung. Das kann nicht ohne finanzielle Konsequenzen bleiben. EU-Geld kann nur ausgegeben werden, wo es EU-Regeln gibt." 

Das Urteil ist eine Revolution und eine Austrittserklärung  

Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki hatte mehrfach bestritten, seine Regierung wolle Polen aus der EU führen. Rechtsexperten aber glauben, dass der Richterspruch  tatsächlich als eine Art Austrittserklärung gelten könnte. Indem der Verfassungsgerichtshof den Vorrang von EU-Recht aus den europäischen Verträgen für unvereinbar mit der polnischen Verfassung erkläre, "kann dies als Erklärung nach Artikel 50 ausgelegt werden (Austritt aus der EU). Entweder sie gehen oder sie ändern die polnische Verfassung", schrieb der Europarechtler Professor Franz C. Mayer.

Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (Archivbild)Bild: Reuters/K. Pempel

Der gleichen Auffassung ist Professor Laurent Pech: "Das ist der Polexit von der EU-Rechtsordnung (wie auch des Ende des Vertrauens in den europäischen Raum des Rechts, was Polen angeht)." Und Professor René Repasi nannte den Richterspruch aus Warschau "eine rechtliche Revolution. Kein nationales Gericht, auch nicht das deutsche Bundesverfassungsgericht, hat je das Recht der EU-Verträge für ultra vires (außerhalb der Zuständigkeit) erklärt." Rechtlich gesehen sei das der weitreichendste Schritt hin zu einem rechtlichen Ausstieg aus der EU durch ein nationales Gericht, den es jemals gegeben habe, erklärte der Verfassungsjurist.