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PolitikAsien

Japan rückt weiter vom Pazifismus ab

Martin Fritz
26. April 2022

Unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs wollen Japans Konservative die Verteidigungsausgaben drastisch erhöhen und die Raketenabwehr ausweiten.

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Japan Militär Ausrüstung
Infanteristen der japanischen Selbstverteidigungskräfte bei einer Ansprache des neuen Premiers Kishida im November 2021Bild: Kyodo/picture alliance

Bei seiner Videoschalte ins japanische Parlament lobte der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj Japan im März als "erste Nation in Asien, die begonnen hat, Druck auf Russland auszuüben". Tatsächlich verurteilte die Regierung in Tokio die russische Invasion und schloss sich den meisten westlichen Sanktionen ohne langes Zögern an.

Die Vermögen der russischen Zentralbank und von zwei Großbanken sowie von 500 Einzelpersonen und Organisationen aus Russland wurden eingefroren. Der Export von Hochtechnologie sowie neue Investitionen in Russland wurden untersagt, der Meistbegünstigungsstatus im Handel wird Russland entzogen. Außerdem will Japan rasch auf russische Kohle verzichten, wenn auch nicht auf Flüssiggas aus einem gemeinsamen Förderprojekt in Sibirien. 60 der 168 in Russland tätigen japanischen Unternehmen, darunter Toyota und Sony, stellten ihre Geschäfte ein.

Japan Kotoden Zug Ukraine Farben
Solidarität mit der Ukraine bei der japanischen Eisenbahn Bild: Yomiuri Shimbun/AP Images/picture alliance

Die eindeutige und schnelle Parteinahme für den Westen zeigt die Richtung auf, in die sich Japans Außen- und Sicherheitspolitik bewegt: Premierminister Fumio Kishida will Japan als bedeutenden Akteur der Weltpolitik profilieren, um seine politischen und wirtschaftlichen Interessen besser durchsetzen zu können. Dabei setzt der 64-Jährige, der bereits von Ende 2012 bis Mitte 2017 Außen- und kurzzeitig Verteidigungsminister war, einerseits auf einen Schulterschluss mit dem einzigen Sicherheitspartner USA und andererseits auf eine Emanzipation von der bisherigen Junior-Rolle in diesem Bündnis. "Japan wird seine Sicherheitspolitik mit Verweis auf Russlands Invasion in der Ukraine neu ausrichten", erklärte der deutsche Japan-Experte Sebastian Maslow von der Frauenuniversität Sendai.

Vorbild NATO

In der Folge dürfte sich die unter Premier Shinzo Abe begonnene Abkehr vom Pazifismus der Nachkriegszeit beschleunigen. Mit einer Neuauslegung des Pazifismus-Artikels 9 der Verfassung, der Japan das Recht auf Kriegsführung und auf eine Armee abspricht, erlaubte Abe es den japanischen "Selbstverteidigungsstreitkräften", dass sie internationale Verbündete im Fall einer "kritischen Bedrohung" Japans verteidigen dürfen.

Wenn etwa ein US-Kriegsschiff attackiert wird, dürfen japanische Soldaten zu Hilfe eilen. Auch wurde dem Militär erlaubt, in Gewässern im Nahen Osten Minen zu räumen, wenn dadurch die wirtschaftliche Versorgung Japans gesichert wird. Frühere japanische Regierungen hatten diese "kollektive Selbstverteidigung" als verfassungswidrig abgelehnt.

Japan | Vitali Klitschko Bürgermeister von Kiew und Daisaku Kadokawa Bürgermeister von Kyoto
Videoschalte zwischen den Bürgermeistern der Partnerstädte Kiew und Kyoto, Wladimir Klitschko und Daisaku Kadokawa Bild: Yomiuri Shimbun /AP/picture alliance

Unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges will die konservative Elite um Kishida nun weitere Tabus des alten Pazifismus brechen. Vor wenigen Tagen forderten die Sicherheitspolitiker der regierenden Liberaldemokraten (LDP), das Verteidigungsbudget binnen fünf Jahren auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung zu verdoppeln. Unterstützung kam auch von Ex-Premier Abe. "Alle NATO-Länder haben sich ausnahmslos bereit erklärt, ihren Verteidigungshaushalt auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung anzuheben", sagte Abe vergangene Woche auf einem "Forum für Strategische Studien". Japan mache sich zum "Gespött", so Abe, wenn es seinen Verteidigungshaushalt nicht ebenfalls wesentlich anhebe.

Bisher galt ein Prozent der Wirtschaftsleistung als informelle Obergrenze, um den defensiven Charakter der Außen- und Sicherheitspolitik auszudrücken. "Neben Putins Krieg dienen auch die Bedrohung von Japan durch China und Nordkorea als Rechtfertigung für eine Budgetaufstockung", meint Experte Maslow. Bereits im vergangenen Jahr hatte Japan die Verteidigungsausgaben laut dem Friedensforschungsinstitut SIPRI um 7,3 Prozent auf 54, 1 Milliarden Dollar erhöht. Das war höchste jährliche Anstieg seit 1972.

Der Strategieschwenk könnte noch in diesem Jahr formalisiert werden, wenn die Nationale Sicherheitsstrategie erstmals seit 2013 überarbeitet wird. Allerdings signalisierte die buddhistische Komei-Partei, der Junior-Koalitionspartner der LDP, indirekten Widerstand gegen diesen Kurs. Die Öffentlichkeit würde eine Verdoppelung "nicht leicht akzeptieren", wenn dafür Sozialausgaben gekürzt oder Steuern erhöht würden, meinte Parteichef Natsuo Yamaguchi.

"Fähigkeit zum Gegenschlag"

Die LDP-Sicherheitspolitiker forderten auch die Einführung von Waffen, die feindliche Angriffe mit Raketen bereits vor deren Abschuss verhindern können. Eine solche bereits von Abe geforderte Fähigkeit zum Präventivschlag stünde jedoch im Widerspruch zum bisherigen pazifistischen Verfassungsverständnis.

Japan Tokio Boden-Luft Rakete PAC-3
Patriot-Raketenabwehrsystem bei TokioBild: picture alliance/AP/E. Hoshiko

Tetsuo Kotani vom "Japan Institute of International Affairs" schilderte gegenüber der US-Militärzeitschrift "Stars and Stripes" die aktuelle Linie der Regierung so: "Wir wollen Fähigkeiten zum Gegenschlag aufbauen. Wir verlassen uns auf die bestehenden Aegis- und Patriot-Abwehrsysteme, um die erste Welle von Raketen abzufangen. Aber nachdem Raketenangriffe begonnen haben,  müssen wir Abschussrampen und Startbahnen auf feindlichem Territorium zerstören können." Die Regierung in Tokio könnte zu diesem Zweck zukünftig die Stationierung von Lenkwaffen mittlerer Reichweite auf japanischen Territorium erlauben, sagte der japanische Verteidigungsexperte gegenüber "Stars and Stripes".

Die einzige rote Linie bleiben bisher Atomwaffen. Zwar schlug Ex-Premier Abe kürzlich vor, dass Japan wie Deutschland US-Atomwaffen im eigenen Land zulassen sollte. Doch Kishida erteilte der Überlegung von Abe schnell eine klare Absage: So etwas sei mit Japans drei Prinzipien nicht vereinbar, keine Atomwaffen zu bauen, keine zu besitzen und auch keine Stationierung zu erlauben.