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Kanaren - mehr Unabhängigkeit vom Tourismus?

Stefanie Claudia Müller Teneriffa/Gran Canaria
21. Juli 2020

Die Kanaren sind ein Paradies. Aber sie sind weit weg von Europa. Die Industrie-Verantwortliche in der Regionalregierung will einen Kurswechsel - und dabei verstärkt auf Afrika schauen.

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Mehr als ein Urlaubsziel? Santa Cruz de Tenerife
Bild: DW/S. C. Müller

Die 36jährige Sozialdemokratin Yaiza Castilla macht einen ziemlich entschiedenen Eindruck. Die Verantwortliche für Tourismus und Industrie in der Regierung der Kanaren kann sich so präzise ausdrücken, dass Männer neben ihr gelegentlich eine schwache Figur abgeben. So wie zum Beispiel Zurab Pololikashvili, Chef der in Madrid ansässigen World Tourism Organization, der die Industrie- und Tourismusverantwortliche der Kanaren in diesen Tagen der Pandemie eigentlich beraten sollte. 

Während der Georgier bei einem Besuch auf den Inseln vor allem Floskeln verbreitet, weiß die junge Spanierin ganz genau, was zu tun ist: "Wir müssen unsere Wirtschaft diversifizieren, autarker zum Beispiel bei Energie- und Lebensmittelversorgung werden und unabhängiger vom internationalen Tourismus."

Das bedeutet für sie unter anderem: noch mehr Handel mit Afrika, eine diversifiziertere Landwirtschaft, also nicht nur Bananen und Tomaten, noch mehr Dreharbeiten und Werbespots für die Inseln, einen Ausbau der regionalen Weinwirtschaft für den internationalen Markt.

Yaiza Castilla, Tourismus- und Industrie-Beauftragte der Kanarischen Regierung
Hat einen Plan: Yaiza Castilla, Tourismus- und Industriebeauftragte der Regierung der Kanarischen InselnBild: DW/S. C. Müller

Castilla brauchte kein Coronavirus, um zu ihren Einsichten zu kommen: "Jetzt sind zwar 75 Prozent der Hotels noch geschlossen, aber schon vorher wurden wir durch die Air Berlin-Pleite getroffen, dann durch den Bankrott von Thomas Cook. Tourismus macht indirekt 80 Prozent der kanarischen Wirtschaftsleistung aus und direkt 40 Prozent der Beschäftigung."

Auch das Geschäft mit Ferienimmobilien hängt von Urlaubern ab. Rund 13 Prozent der Bevölkerung auf den Inseln sind Ausländer, darunter neben den Wirtschaftsimmigranten aus Marokko vor allem Deutsche, Briten und Franzosen. Vor der Pandemie lag die Arbeitslosigkeit nach offiziellen Angaben bei 19 Prozent, bis Ende des Jahres dürfte sie auf 25 Prozent steigen.

"Nie dagewesene Krise"

"Wir erleben eine nie dagewesene Krise, unsere Kräfte sind am Ende", sagt Ana Oramas, Sprecherin der Coalición Canaria im Regionalparlament. Die Misere der Kanaren hänge auch damit zusammen, dass die Menschen dort enorm umweltbewusst seien und sich deswegen viele wirtschaftliche Chancen wie zum Beispiel bei der Mineralöl-Förderung hätten entgehen lassen, glaubt der Ökonom Juan Carlos Higueras. Das Pro-Kopf-Einkommen der autonomen Region liegt mit 20.892 Euro inzwischen 20 Prozent unter dem spanischen Durchschnitt.

Ana Oramas klagt: "Wir werden allein gelassen." Manuel Romera, Finanzwissenschaftler an der IE University in Madrid, dagegen glaubt, dass die 2,2 Millionen Kanaren mehr mit ihren enormen Steuervorteilen für Investitionen und Unternehmen werben und die Verbindungen nach Afrika verbessern sollten - und nicht nur ihre Hotels promoten: "Es ist klar, dass sie den Tourismus perfekt beherrschen."

Infografik Spanien Tourismus Kanarische Inseln

Konflikt oder Partnerschaft mit Marokko?

In der Hafenwirtschaft versucht die kanarische Regierung bereits, sich international besser zu positionieren, etwa im Wettbewerb mit Tanger in Marokko. Allerdings gibt es seit langer Zeit Konflikte mit dem gegenüberliegenden Königreich. In diesem Jahr spitzte sich die Lage zu, weil Marokko das eigene Hoheitsgebiet vor den Küsten zu Ungunsten der Kanarier ausgeweitet hat.

Es geht um die Rechte beim Fischfang und bei der Ölförderung. "Studien beweisen, dass sich das lohnt. Zudem gibt es 4000 Meter unter dem Wasser große Vorkommen von Bodenschätzen, die einen enormen Reichtum versprechen, wenn die Technologie entwickelt ist, um sie abzubauen", so Juan Carlos Higueras, Ökonom an der EAE Business School. Bei wem die Abbaurechte daran liegen, ist aber strittig.

Der auf Teneriffa lebende Olando Hernández fühlt sich ohne Frage Afrika näher als Spanien. Der Handwerker ist lange pensioniert, geht aber immer noch täglich in seine kleine Schreinerei am Platz Los Lavaderos in Santa Cruz de Tenerife. Viel herum gekommen ist er nicht, aber er traut den Afrikanern mehr als den Festlandspaniern: "Die halten uns doch für Wilde", sagt der 80jährige.

Infografik Spanien Immobilien Ausländer

Homeoffice auf den Kanaren

Die Ökonomin Laura Ramos ist gerade wieder zurückgekehrt nach Gran Canaria. Die 42jährige Kanarin weiβ, dass sie auf der Insel nicht so viel verdienen kann wie in den USA, wo sie lange gelebt hat: "Aber für mich sind die Umgebung, die Kultur und meine Familie auch wichtig." Sie glaubt, dass die Strategie der Sozialdemokratin Castilla aufgehen könnte, die Kanaren ganz neu zu positionieren – "als Ziel für Menschen, die von überall arbeiten können; gerade jetzt, wo alle im Homeoffice sind. Hier haben sie das ganze Jahr ein mildes Klima und saubere Luft, und man kann sehr günstig leben", sagt Ramos.

Dabei soll die Natur möglichst wenig Schaden nehmen, denn die ist den meisten Kanaren wichtiger als ihr eigener Wohlstand. So schafften sie es vor ein paar Jahren mit lautstarken Protesten, den spanischen Mineralölkonzern Repsol von Bohrungen vor der Küste der Inseln abzuhalten. Zwar verdienen sie Geld mit der Reinigung und Reparatur von Bohrinseln in den kanarischen Häfen. Aber ansonsten setzt auch Castilla auf erneuerbare Energien und nicht auf fossile Brennstoffe. Die Insel El Hierro versorgt sich inzwischen komplett selbst mit grünem Strom. Das ist auch das Ziel für die anderen Inseln, sagt Yaiza Castilla.

Erhaltenswertes Natur-Paradies 

Die Kanaren als Natur-Paradies, das erhalten werden muss - so sieht es auch der spanische Ökonom Javier Díaz-Jiménez: "Wenn ich könnte, würde ich von dort arbeiten, und zwar vom Strand von Las Palmas in Gran Canaria." Aber noch ist er Dozent an der IESE Business School in Madrid. Seine Liebe zu Las Palmas hat auch damit zu tun, dass Afrika in der Nähe ist: "Spaniens Blick insgesamt sollte auf diesen Kontinent gerichtet sein und nicht nur auf Asien und Europa." Er jedenfalls spreche mit seinen Studenten derzeit sehr viel über Afrika.

Der Schreiner Hérnando steht mit einer von ihm gebauten kanarischen Gitarre in seiner Werkstatt
Der Schreiner Hérnando mit einer von ihm gebauten kanarischen GitarreBild: DW/S. C. Müller

Auch der Schreiner Hérnando kann sich keinen besseren Platz vorstellen als Teneriffa mit Blick auf Afrika. Er holt eines seiner Instrumente heraus, die er gebaut hat - eine traditionelle kanarische Gitarre - und strahlt voller Stolz: "Nicht alles im Leben hat einen materiellen Wert."

Dem stimmt auch die Ökonomin Ramos zu, die in Marokko als Finanzexpertin gearbeitet hat und hofft, dass die Kanaren engere Verbindungen mit dem Land knüpfen: "Wir haben mehr Gemeinsamkeiten als Gegensätze."