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PolitikEuropa

Zweite Welle? Gelassen bleiben!

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert
2. August 2020

Die Zahl der Corona-Infektionen nimmt in Europa zu. In ganz Europa? Nein, nur an wenigen Orten. Damit muss man umgehen lernen, meint Bernd Riegert.

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Symbolbild - Mundschutz
Bild: picture-alliane/APA/picturedesk/B. Gindl

Seit einigen Wochen steigen die Infektionszahlen mit dem Coronavirus in der Europäischen Union an. Von explosionsartigem Wachstum und von einer zweiten Welle, die viel schlimmer wird als die erste, fabulieren manche Virologen und auch viele Journalisten.

Zu dieser Panikmache besteht kein Grund, wenn man den Zahlen der Europäischen Behörde für Seuchenbekämpfung (ECDC) in Stockholm vertraut. Danach steigen nicht die Zahlen in Europa insgesamt an, sondern in etwa einem Dutzend von Infektionsherden, die sich lokalisieren lassen. In weiten Teilen der EU stagniert das Infektionsgeschehen auf niedrigem Niveau. Aufgabe der Politik und der Gesundheitssysteme ist es, diese Infektionsherde zu isolieren und die Infektionsketten zu unterbrechen, die von dort ausgehen. Dazu können - wie in Barcelona, Lissabon, Luxemburg und Antwerpen - regional begrenzte Ausgangsbeschränkungen gehören. Ein flächendeckender Lockdown oder gar das Schließen von Grenzen ganzer Staaten ist völlig unnötig. Nicht das Reisen an sich ist das Problem, sondern das Verhalten der Menschen am Zielort oder in ihrer Heimat.

Viel wichtiger als sich für die relativ einfache Abschottung gegenüber anderen Ländern zu begeistern, wäre es, Testkapazitäten und obligatorische Reihentests auszubauen, um Infektionsherde frühzeitig zu erkennen. Das Testen von Reisenden an den deutschen Grenzen  ist dabei nur ein kleiner Ausschnitt der notwendigen Testmaßnahmen. Das müsste natürlich an sämtlichen EU-Binnen- und Außengrenzen geschehen.

Touristen sind nicht ansteckender als Daheimgebliebene

Riegert Bernd Kommentarbild App
Europakorrespondent Bernd Riegert

Die Reisenden sind übrigens nicht infektiöser als feiernde Jugendliche in Berlin oder Schüler in irgendeiner Kleinstadt oder Arbeitnehmer in einer Fleischfabrik. Neue Ausbrüche der COVID-19-Infektion, so sagen Virologen, können überall passieren. Mit staatlichen Grenzen oder gar der Nationalität der Menschen hat das nichts zu tun. Daraus folgt, dass zum Beispiel Schüler, Studenten, Lehrer, die nach den Sommerferien an die Schulen und Universitäten zurückkehren, regelmäßig in kurzen Abständen getestet werden müssen. Das selbe gilt für Kindertagesstätten, Mitarbeiter von großen und kleinen Unternehmen, Stadtverwaltungen, Krankenhäusern, Altenheimen und Behörden.

Klar: Der Aufwand ist groß. Die Tests müssen finanziert werden. Das stimmt, aber das ist auf lange Sicht immer noch billiger, als die ganze Gesellschaft wieder in eine Kontaktsperre zu schicken. Einen zweiten oder dritten flächendeckenden Lockdown ohne Rücksicht auf das wirkliche Infektionsgeschehen kann sich Europa nicht leisten. Um das zu verstehen, reicht ein Blick auf die verheerenden Zahlen zur Wirtschaftsentwicklung: Zehn Prozent minus allein in Deutschland für die Abwehr der ersten Welle im März und April. Das kann man nicht beliebig wiederholen.

Ein weiterer Grund, nicht in Panik zu verfallen, ist die Einschätzung der Seuchenbehörde der EU, dass die Übersterblichkeit, also die Zahl der Todesfälle, die durch das Coronavirus zusätzlich zur normalen Sterblichkeit entstehen, auf einem relativ niedrigen Niveau liegt. Inzwischen sollte es auch genügend Krankenhauskapazitäten und Intensivbetten in den EU-Staaten geben, um mit den Corona-Infizierten umzugehen. Wo das noch nicht der Fall ist, muss nachgebessert werden. Auch das ist allemal billiger, als die Wirtschaft durch Abschottung erneut auf eine extreme Talfahrt zu schicken.

Was ist mit dem Rest der Welt?

Mit Ruhe und Mäßigung werden wir die zweite, dritte und vierte lokal begrenzte Welle von Corona überstehen müssen. Ein wirksamer Impfstoff, der die gesamte Bevölkerung schützen könnte, ist in weiter Ferne, wird vielleicht nie entwickelt werden können. Wir müssen mit dem Virus leben, ohne uns ständig in Untergangsphantasien zu ergehen. Es werden sich weiter Menschen infizieren und es werden weiter Menschen an oder mit COVID-19 sterben. Auch das sollte in Europa kein Grund zur Panik sein.

Europa gehört wahrscheinlich zu den glücklichen Kontinenten in dieser Pandemie. Amerika, Asien, Afrika sind mitten drin im exponentiellen Wachstum der ersten Welle. Das sollte uns wirklich Sorgen bereiten. Denn das kann bedeuten, das dort Millionen Menschen, nicht nur an COVID-19, sondern an den Folgen der ausgelösten Wirtschaftskrise sterben werden. Die Globalisierung könnte enden, wenn wir nicht bald dazu übergeben, Grenzschließungen für die USA, Brasilien, Indien und viele andere Staaten aufzuheben, und stattdessen Reisende rigoros zu testen und bei Bedarf zu isolieren.

Kontakte, menschliche und wirtschaftliche, werden global immer schwieriger. Die Folgen dieser Entwicklung sind noch gar nicht abzusehen. Wenn überhaupt etwas Panik auslösen sollte, dann ist es wohl dieser Blick von Europa auf die Welt.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union