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Missbrauch der Religion?

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp
26. Juli 2015

Die jüngste Gewalt auf dem Tempelberg wirft die Frage nach dem eigentlichen Charakter des Nahost-Konflikts auf. Ist er wirklich vor allem politischer Natur? Die Wahrheit könnte düsterer sein, fürchtet Kersten Knipp.

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Tempelberg Jerusalem
Bild: AFP/Getty Images/T. Coex

Die jüngste Episode um den Tempelberg gehört zu jenen Geschichten, die mehr als nur einen Anfang haben. Jüdische Siedler hätten ein palästinensisches Kind angegriffen, daraufhin sei es zu Rangeleien gekommen, heißt es auf der einen Seite. Die Besetzung der Al-Aksa-Moschee durch junge Palästinenser sei länger geplant gewesen, heißt es auf der anderen. In jedem Fall, versichern beide Parteien, hätten sie nur auf Aggressionen der jeweils anderen reagiert.

Wo immer die Episode ihren Anfang genommen hat, sie ist ein politisches Lehrstück. Sie verdeutlicht oder lässt zumindest ahnen, warum sämtliche - auch und gerade internationale - Versuche, den Nahost-Konflikt zu beenden, gescheitert sind. Und vermutlich auch scheitern mussten. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die Vermittler unterschätzen regelmäßig die religiöse Dimension des Konflikts. In säkularen und postreligiösen Staaten sozialisiert, vermögen sie es sich schlicht nicht vorzustellen, dass moderne Konfliktlösungen an religiöser Versessenheit scheitern könnte. Sie betrachten den israelisch-palästinensischen Dauerstreit vor allem als territorialen Interessenskonflikt. Sie haben die Rechnung ohne religiösen Wahn gemacht - und zwar den auf beiden Seiten.

Religiöser Chauvinismus

Radikale Siedler, die den Tempelberg in religiöser Montur besteigen wollen. Glaubensfeste Muslime, die ihnen drohend den Koran entgegenschwenken: Aus der Region kommen die immer gleichen Bilder, die gleichen Ausdrucksmittel. Immer stärker lassen sie an der These zweifeln, die Religion komme immer - und ausschließlich - dann zum Zuge, wenn die Politik gescheitert sei. In diesem Konflikt schwingt etwas mit, das sich rationaler Analyse entzieht. Jedenfalls solange, wie diese Analyse nicht willens oder in der Lage ist, auch von der Existenz irrationaler Motive auszugehen.

Der religiöse Konflikt wird durch die Vermengung mit dem politischen oder territorialen Streit nicht einfacher. Und natürlich ist es schwer, beide voneinander zu trennen. Warum, könnte man etwa fragen, dürfen Juden (ebenso wie Christen) den Tempelberg zwar besuchen - aber nicht auf ihm beten? Die islamische Wagf-Stiftung, die das Areal verwaltet, könnte sich wirklich großzügiger zeigen. Auf der anderen Seite ist es schwer vorstellbar, dass Juden und Muslime auf dem Tempelberg dicht an dicht ihren frommen Dienst verrichten, während sie sich nur ein paar hundert Meter weiter Straßenschlachten liefern.

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Kersten Knipp, Nahost-Experte der DW

Umgekehrt folgt auch die israelische Politik im Westjordanland religiösen Motive. Dort befinden sich historisch bedeutende Stätten des Judentums. Auch ihretwegen pflegen die Israelis dort eine brutale Besatzungspolitik. Zweitausend Jahre alte Mythen zwingen zivilisierte Umgangsformen in die Knie.

Missbrauch oder Gebrauch der Religion?

Natürlich haben Traditionen ihr Gewicht. Aber ebenso stellt sich die Frage, wem man den Vorzug geben will: dem Glauben der Väter oder der Zukunft der Kinder? Beides zugleich geht nicht. Solange Israel seinen radikalen Siedlern so große de-facto-Freiheit gewährt wie derzeit, ist es schwer, das Land ohne Vorbehalte modern zu nennen. Und so lange Tausenden junger Palästinenser nichts Besseres einfällt, als wieder und wieder den Koran zu schwenken, ist auch ihre Gesellschaft in weiten Teilen vormodern.

Nicht nur im Hinblick auf den israelisch-palästinensischen Konflikt spricht man gerne vom Missbrauch der Religion. Angesichts der verheerenden Energien, die den gesamten Nahen Osten derzeit durchziehen, drängt sich die Frage auf, ob sie dort nicht viel eher ihren eigentlichen Charakter entfaltet. Und zwar in einer Kraft, die alle rationale Konfliktlösung in die Knie gehen lässt.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika