1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Nicht die Virologen entscheiden

29. April 2020

Selten hatten die Beschlüsse der Politik so unmittelbare Folgen für alle Bürger. Hierfür suchen Politiker aus guten Gründen Rat, aber die Verantwortung bleibt ausschließlich bei ihnen, meint Christoph Strack.

https://p.dw.com/p/3bYIb
Deutschland Coronavirus Berlin Christian Drosten
Christian Drosten, der inzwischen bekannteste Virologe Deutschlands, in seinem Labor an der Berliner CharitéBild: picture-alliance/dpa/C. Gateau

Der Kampf gegen das Corona-Virus, das Leben mit der Pandemie und das Überleben dieser Bedrohung ist ein Langstreckenlauf. Das wird die Gesellschaften lange herausfordern, aber - national wie international - auch die Politik. Und Politik sucht Rat bei Fachleuten. Aber wie weit geht das?

Das "Klatschen", der demonstrative Applaus von den Balkonen und aus den Fenstern ist lange her. Es galt dem medizinischen Personal, Ärztinnen und Ärzten, Pflegerinnen und Pflegern für ihre Arbeit, deren Gefährlichkeit niemand absehen konnte und kann. Allein in Italien starben mehr als 150 Ärzte. Da wurde geklatscht und gejubelt für Helden. Aber Helden reichen zumindest einer Medien-Gesellschaft nicht. Sie sucht sich Stars, die man aufbauen, aber auch stürzen kann. Zu den Stars dieser ersten Corona-Etappe wurden die Virologen.

Erkenntnisgewinn in Echtzeit

Deutschland kann zufrieden sein mit dem, was es da an Wissenschaftlern und auch an Wissenschaftsjournalismus zu bieten hat. So kamen Hinweise, die in ihrer Einfachheit jeder umsetzen konnte: die Hände zu waschen, Menschenmengen zu meiden, auch im Privaten physische Distanz zu wahren. So gab es Teilhabe an akademischer Forschung im Werden. Es gab entsprechend auch Erkenntnisgewinn in Echtzeit, mit - was zur Wissenschaft gehört - trial and error, mit Hypothesen, mit deren Widerlegung, mit konkurrierenden Aussagen.

Deutsche Welle Strack Christoph Portrait
DW-Hauptstadtkorrespondent Christoph StrackBild: DW/B. Geilert

So hat sich zum Beispiel die Antwort auf die Frage, ob man Schutzmasken tragen soll oder nicht, seit März ins Gegenteil verändert. Und es gibt viele Fragen, bei denen die Experten es bisher auch nicht wissen und um Geduld bitten. Egal, längst sind sie Stars - bewertet in Rankings nach wissenschaftlicher Rezeption und medialer Präsenz. Und tendenziell auch nach Sexiness oder Ausstrahlung. Und wer dereinst als Erster - ob in Berlin oder Bonn, Oxford, Paris oder Wuhan - einen Impfstoff entwickelt, wird medial vom Star zum Messias aufsteigen.

Dass die Forscher in diese Rolle kamen, liegt auch in der Verantwortung der Politik. Klar: Um das Undenkbare durchzusetzen bis zur Einschränkung bürgerlicher Grundrechte in vielen Bereichen, suchte die Politik, suchte die Bundesregierung die Unterstützung und den Rat der Virologen, mittlerweile längst auch von Vertretern anderer Wissenschaftsbereiche. Aber das Handeln, die Frage konkreter Entscheidungen obliegt der Politik - und nur der Politik. Experten mögen Expertise abgeben, Medien mögen Informationen transportieren und Meinungen gewichten und pushen. Aber handeln muss die Politik. Dafür treten Politikerinnen und Politiker an, dafür werden sie gewählt und bekommen ein Amt auf Zeit. 

Expertise wird immer wichtiger

In einer unübersichtlicher werdenden Welt ist Expertise wichtig und wird wichtiger. Es gibt eine kaum überschaubare Breite an entsprechenden Gremien. Vor 20 Jahren setzte Kanzler Gerhard Schröder angesichts großer Fragen der Biomedizin den Nationalen Ethikrat ein, aus dem später der Deutsche Ethikrat wurde. Bald nach Amtsantritt wertete Kanzlerin Angela Merkel die nur wenig wahrgenommene Nationale Akademie der Wissenschaften, die Leopoldina, auf. Das sind nur zwei Beispiele der vergangenen Jahrzehnte. 

Sicher, zur Verantwortung der Politik gehören Unwägbarkeiten, offene Entscheidungen, Handeln "auf Sicht", wie es in diesen Wochen oft heißt. Das ist von der Fehler-Möglichkeit der Wissenschaft nicht so weit entfernt. Es gehört zu den vielen beeindruckenden Momenten des deutschen Gesundheitsministers Jens Spahn, wie offen er am 22. April im Bundestag von der möglichen Fehlerhaftigkeit mancher Entscheidungen sprach, für die man im Nachgang vielleicht um Entschuldigung bitten müsse. Das hatte Größe. Er sprach von sich - nicht von den Wissenschaftlern.

Entscheidend bleibt das Handeln der Politik

Deshalb bleiben die Auftritte, bleibt auch die Konkurrenz der Virologen im Kampf gegen die Pandemie nur ein Teilaspekt. Sie sind wichtig, aber nicht entscheidend. Das darf und sollte die Politik in Zeiten einer fundamental erschütterten Gesellschaft ruhig deutlicher sagen. Entscheidend bleibt das Handeln der Politik, des Bundestages und der Parlamente. Immer wieder erinnern Präsidenten des Bundestages zu Beginn einer Legislaturperiode an die hohe Verantwortung aller Mandatsträger. Sie stehen auch jetzt in der Verantwortung. Jetzt sogar erst recht.