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Russischer Staatsterrorismus in Berlin?

22. August 2020

Der "Tiergarten-Mord" vom August 2019 belastet seit einem Jahr das deutsch-russische Verhältnis. Die Bundesanwaltschaft behauptet einen Auftragsmord des Kreml, bleibt aber Beweise schuldig, meint Marcel Fürstenau.

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Spurensicherung in der Berliner Parkanlage "Kleiner Tiergarten" am 23. August 2019 nach dem Mord an einem Georgier
Spurensicherung nach dem Mord in der Berliner Parkanlage "Kleiner Tiergarten" am 23. August 2019 Bild: picture-alliance/dpa/P. Zinken

Der lange Arm Moskaus reichte bis nach Berlin - davon ist Generalbundesanwalt Peter Frank überzeugt. Deshalb erhob er im Juni 2020 Anklage gegen Vadim K. alias Vadim S. Der Russe mit den zwei Identitäten steht im Verdacht, am 23. August 2019 mitten in der deutschen Hauptstadt einen ehemaligen Kaukasus-Kämpfer erschossen zu haben. Den Auftrag sollen laut Anklage "staatliche Stellen der Zentralregierung der Russischen Föderation" erteilt haben. Dieser Aussage ist höchst brisant: Denn das wäre Staatsterrorismus!

Einen solchen Vorwurf erhebt niemand leichtfertig. Die Bundesanwaltschaft muss sich ihrer Sache also schon ziemlich sicher sein. Denn eines ist klar: Diese "staatsschutzspezifische Tat von besonderer Bedeutung", wie es in der Juristensprache heißt, hat schon jetzt gravierende Folgen für das deutsch-russische Verhältnis. Und das war bereits vor dem rätselhaften Mord in Berlin schwer belastet. Durch die Annexion der Krim oder den Cyber-Angriff auf den Bundestag 2015, für den deutsche Sicherheitsbehörden ebenfalls Moskau verantwortlich machen.

Staatsterrorismus ist dem Kreml zuzutrauen  

Dass der Kreml mit seinem großmachtsüchtigen Präsidenten Wladimir Putin skrupellos sein kann, steht außer Zweifel. Deshalb kommt er, kommen seine Geheimdienste auch als Strippenzieher für den "Tiergarten-Mord" infrage. Dennoch scheint die Anklage der Bundesanwaltschaft auf wackligen Füßen zu stehen - weniger mit Blick auf den mutmaßlichen Täter als auf seinen vermeintlichen Auftraggeber Russland. Das ergibt sich aus dem, was die Bundesanwaltschaft nach der Übernahme des Ermittlungsverfahrens im Dezember 2019 ein haalbes Jahr später in der Anklage mitteilte: im Kern nichts Neues.

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
DW-Redakteur Marcel FürstenauBild: DW

Schon der Anfangsverdacht basierte auf Indizien, die eine Verwicklung staatlicher russischer Stellen plausibel erscheinen lassen. Eine Spur führt demnach direkt ins Verteidigungsministerium. Trotzdem ließ sich die Bundesanwaltschaft mit ihrer Anklage ein halbes Jahr Zeit. Vielleicht dauerte es auch deshalb lange, weil sie sich weitere belastende Erkenntnisse von anderer Seite erhoffte: der Bundesregierung und ihren Sicherheitsbehörden. Doch deren Bemühungen, aus Russland mehr zu erfahren, blieben erfolglos.

Clever und unverschämt: Russlands Außenminister Lawrow

Angenommen, es handelt sich tatsächlich um einen staatlich angeordneten Auftragsmord: Hat wirklich jemand ernsthaft mit einem Eingeständnis des Kremls gerechnet? Der weist die Anschuldigung als "absolut haltlose Spekulation" zurück. Außenminister Sergej Lawrow sprach beim jüngsten Besuch seines deutschen Amtskollegen Heiko Maas am 11. August in Moskau von "gegenstandslosen" Vorwürfen. Eine dreiste Behauptung ist das angesichts der Indizien, die der Generalbundesanwalt gesammelt hat - einerseits. Andererseits weiß er, dass die deutsche Seite ihr Pulver in diesem Fall schon so gut wie verschossen hat.

Die Bundesregierung, so scheint es, hat sich diplomatisch und rhetorisch verzockt. Die Ausweisung von zwei russischen Diplomaten im Dezember 2019 konterte Moskau erwartungsgemäß mit einer Retourkutsche: zwei deutsche Botschaftsmitarbeiter mussten das Land verlassen. So sind nun mal die Spielregeln auf dem internationalen Parkett. Letztlich verpufften diese Scharmützel ebenso wirkungslos wie markige Worte. "Die Beweise wiegen schwer", behauptete Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer am 8. Dezember 2019. Indizien sind aber noch keine Beweise.

Tiergarten-Mord: Gespräch mit Patrick Sensburg, CDU

Derweil tritt Außenminister Maas auf der Stelle. Nach dem Rauswurf der deutschen Diplomaten aus Russland ließ er mitteilen: "Weitere Schritte in dieser Angelegenheit behält sich die Bundesregierung im Licht der Ermittlungen vor." Spätestens nach der Anklage des Generalbundesanwalts im Juni hätte Maas nachlegen müssen. Zwei Monate sind seitdem vergangenen, aber passiert ist: nichts. Dabei hätte der deutsche Chefdiplomat allen Grund. Denn 17 (!) Anfragen des Bundeskriminalamtes (BKA), des Bundesnachrichtendienstes (BND) und des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) hätten die Ermittler laut Maas "nicht weitergebracht" oder seien "ohne Antwort geblieben".

Heiko Maas belässt es bei mahnenden Worten

Und welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung daraus? Keine! Das deutsch-russische Verhältnis sei "nicht zuletzt" wegen des Mordfalls "in schwieriges Fahrwasser geraten". Und an diesem Zustand wird sich so schnell nichts ändern. Noch gibt es keinen Termin für den Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder vom "Kleinen Tiergarten" vor dem Staatsschutzsenat des Berliner Kammergerichts. Dass der Angeklagte zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wird, ist wahrscheinlich. Dafür spricht die präzise Ermittlung des Tatgeschehens, für die es auch Zeugen gibt.

Dass staatliche Stellen Russlands den Mord in Auftrag gegeben haben, dürfte allerdings kaum stichhaltig zu beweisen sein. Es sei denn, der seit seiner Festnahme schweigende Angeklagte packt doch noch aus und bestätigt die These der Bundesanwaltschaft. Im Moment scheint das die letzte Hoffnung der Ermittler zu sein. Ansonsten gilt für den mutmaßlichen Auftraggeber Russland das, was auch für den mutmaßlichen Mörder gilt: im Zweifel für den Angeklagten.

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Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland