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Politik

Lang lebe die "Wremja"!

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Juri Rescheto
11. März 2019

Tausende Russen haben am Wochenende gegen die geplante Abschottung des russischen Internets und gegen die Zensur im Netz protestiert. Maßnahmen, die das Land Jahrzehnte zurückwerfen könnten, meint Juri Rescheto.

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Karikatur von Sergey Elkin zu "Autonomes Internet in Russland"

Dichter Zigarettenqualm, monotone Sprecherstimmen: Nachrichten aus der Produktion, Verlautbarungen des Politbüros, das Wetter -das sind meine Kindheitserinnerungen. Schwarz-weiß, düster, analog. Ich bin geboren und aufgewachsen in der UdSSR.

Mein Vater rauchte wie Millionen Sowjetbürger in unserem Wohnzimmer und wartete wie Millionen Sowjetbürger auf den Abendfilm. Der kam nach der Hauptnachrichtensendung des Tages mit dem Namen "Wremja" - zu Deutsch "Zeit". Die Rauchschwaden im Wohnzimmer sind verschwunden, mein Vater raucht wie Millionen Russen nicht mehr. Die "Wremja" aber blieb. Die Nachrichten aus der Produktion und die politischen Verlautbarungen auch. Etwas moderner, bunter, flotter zwar, der Inhalt aber fast jeden Tag gleich: ein Drittel Putin, ein Drittel Medwedew, ein Drittel "der böse Westen". Wem das zu öde ist, der flüchtet ins Netz. Doch damit könnte bald Schluss sein.

Russland wehrt sich!

Denn die Duma hat entschieden: Russland wehrt sich! Gegen wen? Die Amerikaner natürlich, wen sonst? Weil in den USA nämlich die meisten der großen Internet-Server stehen und die Amerikaner - böse wie sie nun mal sind - Russland einfach vom WorldWideWeb abschalten können. Und deswegen muss Russland ein eigenes, von den USA unabhängiges Internet haben. Sagt die Duma.

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Juri Rescheto leitet das DW-Studio in Moskau

Weil die korrupten Behörden ihre Korruptionsbekämpfer und mit ihnen gleich alle Andersdenkenden mundtot machen wollen, planen sie ein Verbot des freien Internets und die totale Überwachung. Sagen die Kritiker.Davon waren bis zu 15.000 an diesem Wochenende auf Moskaus Straßen - laut Organisatoren die größten Proteste der vergangenen Jahre. Sogar größer als die Demos gegen die Rentenreform. Die Menschen wollen nicht, dass das Internet wie die "Wremja" wird. Mit Nachrichten aus der Produktion und reinen Verlautbarungen. Gebügelt und gestriegelt. Zensiert.

Ein "russisches Internet" - geht das technisch überhaupt? Wohl kaum, sagen Experten. Selbst mit dem enormen technischen und finanziellen Aufwand, den die Behörden neulich getrieben haben, um den Messenger-Dienst Telegram zu verbannen. Gelitten haben Millionen Nutzer, tausende Firmen, sogar Staatsdienste, die bisher regelmäßig auf Telegram zurückgegriffen haben. Genutzt hat es nichts - Telegram gibt es weiter. Wichtig ist aber die Botschaft: Und die lautet "zurück zu Sowok". So nennt man in Russland das verhasste Sowjet-Regime mit seinem dichten, ehemals Eisernen Vorhang. Nur dass der moderne Eiserne Vorhang heute online ist.

Eine erfolgreiche Wirtschaft braucht freies Internet

Welch ein Paradox! Gilt doch gerade Russland mit seiner hochentwickelten IT-Branche als eines der fortschrittlichsten Länder der Welt. Zumindest in seinen Ballungszentren. Moskau ist eine echte Smart-City geworden. Selbst in den 80 Metern Tiefe der Metro kann man sekundenschnell Bankgeschäfte erledigen und Arzttermine organisieren. Dank starkem "Wifi for free". Russland hat mit das günstigste mobile Internet weltweit. Russische Start-ups mischen erfolgreich den internationalen Markt auf. Und nun soll ausgerechnet in Russland das Internet seine wichtigste Funktion verlieren - den freien Austausch von Informationen.

Vergessen sind die 1990er-Jahre, das goldene Zeitalter des russisches Internets. Zeiten, als Yandex und mail.ru geboren wurden. Heute sind sie zumindest in Russland echte Konkurrenten zu Google & Co. Vergessen sind die 2000er-Jahre, als Dmitri Medwedew während seines Intermezzos als russischer Präsident auf moderne Technologien setzte, auf Internet und transparente Regierung. Heute betrachtet die Regierung das Internet stattdessen als Feind. Und Präsident Putin, der frühere Geheimagent, sieht im Internet vor allem eine Erfindung der US-amerikanischen Geheimdienste. Böser US-amerikanischer Geheimdienste, die Böses wollen, das es zu bekämpfen gilt.

Stattdessen soll alles sein wie die "Wremja". Mit ihrem Jubel über die eigenen Produktionserfolge, die erfolgreich den Sanktionen trotzen. Und mit ihrer kritischen Berichterstattung - allein über das Ausland.

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Juri Rescheto Chef des DW-Büros Riga