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Ein Liter Licht

Bianca Kopsch
12. März 2019

Die Kalunga fühlen sich vergessen. Die Nachfahren von Sklaven leben in Brasilien - viele ohne Strom oder fließend Wasser. Mit der NGO "Litro de Luz" gelingt ein Schritt in die Moderne - und der beginnt mit Licht.

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Flaschenlicht von der NGO Litro de Luz, die Flaschen müssen erst zusammengebaut werden, bevor sie für Licht sorgen. Wie das geht wird in Workshops erklärt
Damit ein Liter Licht auch leuchten kann, muss eine Lampe gebaut werden - das lernen die Einheimischen hier von Mitarbeitern der NGO Litro de LuzBild: DW/Romenique França

Sie ist das modernste Gebäude in einem Ort, der zum Großteil aus Lehmhäusern besteht: die evangelikale Kirche. Der kahle Neubau dient wegen seiner Größe auch für weltliche Zwecke als Versammlungsraum und an diesem Tag herrscht Hochbetrieb. Keiner der rund 800 Einwohner von São Domingos will verpassen, was hier unter dem Namen "Aktion Kalunga" den Dorfalltag revolutionieren soll: Licht aus der Plastikflasche. Rund 50 Freiwillige der Nichtregierungsorganisation Litro de Luz sind extra dafür angereist. Durch sie soll die Gemeinde lernen, aus recycelten Plastikflaschen Solarlampen zu bauen.

Das Gotteshaus wird zu diesem Zweck für eine Woche zum Technik- und Begegnungszentrum umfunktioniert. Auch Lucas Lima ist gekommen. "Ich wollte unbedingt andere Realitäten hier in Brasilien kennenlernen. Das sind komplett verschiedene Welten, zu der, in der wir leben", sagt der 26-jährige Ingenieurstudent aus dem wohlhabenden Süden des Landes sichtlich beeindruckt. Bevor er mit seinem Masterstudium begann, hatte er sich eine Auszeit genommen: Er wollte sich sozial engagieren. Seit einigen Monaten ist er nun Volunteer bei Litro de Luz.

Die Lampen bestehen aus weinigen technischen Bausteinen, Kabeln und Anschlüssen, sowie einer Plastikflasche
Einfache Technik, große Wirkung - eine Lampe besteht aus einer Plastikflasche und ein paar KabelnBild: Bianca Kopsch

Ohne Infrastruktur: Nachfahren der Sklaven in der Abgeschiedenheit

Obwohl São Domingos nur etwa 350 Kilometer nördlich der Hauptstadt Brasília liegt, scheint die Zeit hier stehengeblieben zu sein. Mitten im Nationalpark Chapada dos Veadeiros, nur über holprige Schotterwege zu erreichen, leben seit drei Jahrhunderten die Kalunga. Ihre Vorfahren arbeiteten als Sklaven in den umliegenden Goldminen und flohen aus der Gefangenschaft in die Wildnis. Sie sind die größte Gruppe von Sklavennachfahren Brasiliens. Aus Angst vor der Rückkehr der Sklaverei scheuten sie mancherorts bis in die 1980er Jahre die Außenwelt. Eine grundlegende Infrastruktur ist bis heute nicht bei ihnen angekommen, denn die Bedürfnisse von Minderheiten werden in Brasilien oft vernachlässigt, vor allem wenn sie in abgelegenen Gebieten leben, von denen es im fünftgrößten Land der Erde viele gibt.

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"Wir leben hier praktisch vergessen. Wir haben niemanden, der uns hilft", sagt Adir Sousa. "Wir haben keine Straße, kein sauberes Wasser, keine weiterführende Schule, keinen Strom. Wir haben nichts." Der Bauer ist ebenfalls in die Kirche gekommen, um jetzt in Sachen Stromversorgung sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Er ist Selbstversorger wie fast alle hier und muss auch mit 62 Jahren noch täglich aufs Feld. Als Mitglied der "Vereinigung der Kalunga von São Domingos" setzt er sich für eine Verbesserung der prekären Lebensbedingungen ein. Mittlerweile haben sie die staatliche Anerkennung als "Quilombo" erreicht: So werden die Gemeinschaften von Sklavennachfahren genannt, von denen es Tausende im ganzen Land gibt. Diese Anerkennung ist wichtig, denn sie erleichtert den Zugang zu staatlichen Hilfen im Bereich Landwirtschaft, Hausbau und Schulbildung. Und viele hoffen auch auf den Ausbau der Infrastruktur.

Brasilien: Licht für die Kalunga

Leiden im Dunkeln

Die abgeschiedenen Quilombos haben fast alle das gleiche Problem: Sie sind nicht ans nationale Stromnetz angeschlossen. Wenn der Abend kommt, steht alles still. "Ohne Strom zu leben, bedeutet zu leiden", beklagt Adir Sousa. "Man kann seine Sachen nicht erledigen. Man muss innehalten und bis zum nächsten Tag warten, bis es wieder hell wird." Um den Tag nach 18 Uhr wenigstens noch ein bisschen zu verlängern, benutzt er, wie die meisten hier, Handlampen, die mit Diesel oder Kerosin brennen. Das stinkt und ist gefährlich – immer wieder verursachen sie Brände.

Solarlampe leuchtet im Dunkeln, Dorfbewohner stehen drumherum
Solarlampen vereinfachen das Leben der Einwohner ohne Stromanschluss nicht nur in BrasilienBild: Getty Images/AFP/T. Karumba

Eine einfach zu montierende Solarleuchte soll jetzt Abhilfe schaffen. Lucas Lima schlägt die Bauanleitung auf: nur Bilder, kein Text, denn viele im Dorf können nicht lesen und schreiben. Nach ein paar auflockernden Worten zum Kennenlernen geht er mit einer jungen Dorfbewohnerin die einzelnen Schritte durch: Erst wird ein LED-Plättchen auf den Plastikrumpf geklebt, dann der Flaschenboden als Lampenschirm aufgeschraubt und zuletzt die Batterie verkabelt. Zum Aufladen wird später eine kleine Solarplatte angeschlossen. Die anfängliche Schüchternheit ist bei dem Mädchen während des gemeinsamen Werkens verflogen. Beschwingt sieht sie Lucas Lima an. Fertig! Der Volunteer nickt zufrieden. "Wenn Du die Lampe jeden Tag auflädst, kann sie fünf Stunden am Stück leuchten und gut zwei Jahre halten", erklärt Lima. Das Mädchen strahlt.

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Treffpunkt Nachtleben

Die Jugendlichen des Ortes haben Solarstraßenlaternen gebaut und sie auch vor dem neuen Festpavillon aufgestellt – um das Nachtleben anzukurbeln. "Wenn wir hier ein Fest gemacht haben, hatten wir nur eine kleine Leuchte", sagt die 16-jährige Daniela da Costa. "Wir sind abends kaum rausgegangen, weil es überall stockdunkel war. Das wird sich jetzt bestimmt ändern." Ihre Schule will dort im Schein der Straßenlaterne einmal die Woche einen kulturellen Abend veranstalten: mit Musik, Gesprächen und Geschichten.

Im Dorf auf der Straße sind Menschen mit dem Zusammenbau der Solarlampen beschäftigt
Selbstgebaute Solarlampen erleuchten nicht nur einzelne Hütten. Es gibt sie auch groß genug, um Nachts auf Straßen für Licht zu sorgenBild: Bianca Kopsch

In ganz Brasilien sind rund eine Million Menschen nicht ans nationale Stromnetz angeschlossen. Mehr als 10.000 von ihnen hat Litro de Luz nach eigenen Angaben bislang Licht gebracht. Die NGO wurde 2014 als Ableger der preisgekrönten Hilfsorganisation Liter of Light gegründet, die in mehr als 20 Ländern aktiv ist.

Das Baumaterial bekommt Litro de Luz zum Selbstkostenpreis von den Herstellern. Ihren Einsatz bei den Kalunga finanziert die NGO mit umgerechnet knapp 13.000 Euro Preisgeld, die sie bei einem Wettbewerb der Stiftung Banco do Brasil für soziale Technologien gewonnen hat.

Neuer Rhythmus

In São Domingos gehen bei Einbruch der Dunkelheit jetzt die Solarlampen an. Nicht nur auf der Straße, sondern auch in den Häusern. Die Kalunga können endlich den Tag verlängern und ihre Arbeit noch zu Ende bringen, Hausaufgaben machen, später kochen, essen, schlafen gehen oder sich treffen. Zweihundert Jahre lang haben sich viele in dieser Gegend aus Angst vor der Sklaverei zurückgezogen und weitgehend im Dunkeln gelebt. Das ist jetzt vorbei.

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