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PolitikEuropa

Europas Schande

Barbara Wesel Kommentarbild App *PROVISORISCH*
Barbara Wesel
25. November 2021

27 Menschen starben am Mittwochabend bei dem Versuch, mit einem Schlauchboot von Frankreich nach Großbritannien überzusetzen. Viele haben Schuld an dieser Tragödie, meint Barbara Wesel.

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Großes graues Schiff der britischen "Border Force" mit Migranten an Bord im Hafen von Dover
Die britische Küstenwache hat Anweisung, Flüchtlingsboote in französische Gewässer abzudrängen - bisher weigert sie sichBild: Henry Nicholls/REUTERS

Der Grad der Verzweiflung, der Menschen dazu treibt, an einem kalten Novemberabend in ein seeuntüchtiges Schlauchboot mit Kurs auf die britische Küste zu steigen, ist kaum zu ermessen. Zumal wenn Mütter ihren Kindern dabei einreden müssen, die Reise sei nicht gefährlich und man werde sicher gleich ankommen. Und wenn die Fahrt dann furchtbar schief geht, wie an diesem Mittwoch, vergießen die betroffenen Politiker ihre Krokodilstränen.  Man sei traurig und betroffen tönen Boris Johnson und Emmanuel Macron und versprechen, die tödlichen Reisen irgendwie zu unterbinden.

"Warum hat Frankreich sie nicht aufgehalten?" fragt am Tag danach ein britisches Massenblatt. London zeigt mit dem Finger auf die Nachbarn und ignoriert völlig die eigene Verantwortung. Seit dem Brexit aber ist Großbritannien selbst für seine Grenzen verantwortlich und das ist eben schwieriger, als die Propaganda den Bürgern vorgegaukelt hat. Der Anspruch auf die Hilfe von Frankreich oder Belgien ist weg und auch das Recht ist verloren, Migranten dorthin zurückzuschieben.  

Großbritannien schiebt die Verantwortung weg

In London wies die knallharte Innenministerin Priti Patel die britische Küstenwache an, die kleinen Boote im Kanal auf die französische Seite zurückdrängen. Zu ihrer Ehre weigert sich diese, die für die Migranten lebensgefährliche Anordnung umzusetzen. Dann verkaufte die Regierung das Märchen, man wolle alle Flüchtlinge irgendwo exterritorial unterbringen, in Albanien zum Beispiel. Tirana winkte umgehend ab. Dieses Hirngespinst hatte die EU übrigens auch schon mal vorgeschlagen.

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DW-Europa-Korrespondentin Barbara Wesel

Jetzt aber schwört Boris Johnson, er werde jeden Stein umdrehen, um den Schleppern das Handwerk zu legen. Das ist, wie so häufig bei ihm, leeres Gerede. Die Menschenhändler sitzen nämlich auf dem Kontinent und er müsste mit den Nachbarn zusammenarbeiten, wenn er wirklich Erfolge wollte. Zu Recht beklagte der französische Präsident vor kurzem, die Briten schwankten zwischen "Kooperation und Provokation". Man kann nicht einen kindischen Kleinkrieg um Fisch anzetteln und gleichzeitig von Paris vertrauensvolle Zusammenarbeit fordern. 

Und schließlich: Die Flüchtlinge wollen nach Großbritannien, weil sie dort Verwandte haben. Oder sich wegen der englischen Sprache und der großen internationalen Exilgemeinden einen besseren Start versprechen. Die Regierung aber strebt eine Aufnahmequote von Null an. Es gibt kaum noch offizielle Wege, ins Land zu kommen. Kriegsflüchtlinge und politisch Verfolgte sollen doch woanders um Asyl bitten - Großbritannien hat die Zugbrücke hochgezogen.

Halbherzige Politik in Frankreich

Die französische Regierung wiederum laviert zwischen Weggucken und Polizeieinsätzen. So wurde in der vorigen Woche wieder ein Lager an der Küste bei Grand Synthe abgeräumt. Die Flüchtlinge nehmen dann ihre Zelte und ziehen ein paar Dünen weiter. Aber die meisten halten an ihrem Plan fest, irgendwie nach Großbritannien zu kommen. Dabei haben französische Grenzwächter in diesem Jahr auch Tausende von Überfahrten verhindert. Andererseits fühlen sie sich nicht verpflichtet, Menschen in Frankreich festzuhalten, die unbedingt weiterziehen wollen.

Dabei sind die Chancen, Asyl oder Schutz in Frankreich zu erhalten, gar nicht so schlecht. Aber der Mythos vom gelobten Land Großbritannien sitzt in vielen Köpfen fest. Die französische Regierung sollte vielleicht mit örtlichen Hilfsorganisationen zusammenarbeiten, um die Flüchtlinge über die Gefahren der Überfahrt aufzuklären und Botschaften in den Sozialen Medien platzieren.

Keiner will Flüchtlinge kurz vor den Wahlen

Wenn sie aber blieben, würde dies bedeuten, dass Paris ein paar Tausend Menschen zusätzlich aufnehmen müsste, sie versorgen, ihre Anträge prüfen und sie vielleicht in ihre Heimat zurückbringen - was bekanntermaßen schwierig ist. Darum reißt sich niemand, zumal nicht kurz vor den Wahlen. Wenn viele Flüchtlinge Frankreich als Transitland betrachten, sei's drum - so denken viele.

Migranten (viele Männer, aber auch zwei Frauen und drei Kinder) stehen in einem wilden Zeltlager. Im Hintergrund sind Wohnhäuser zu sehen
Illegale Flüchtlingszeltlager, wie hier in Grande Synthe bei Calais, werden von der französischen Polizei regelmäßig geräumtBild: picture-alliance/dpa/La Voix Du Nord/M. Demeure

Die schnellen Verhaftungen einiger Schlepper jetzt aber zeigen, dass die Polizei durchaus Kenntnisse dieser Szene hat. Hier wären Polizei und Justiz wirklich gefragt, um den skrupellosen Geschäftemachern das Handwerk zu legen.

Das ewige Versagen Europas

Am Ende aber steht hinter den Toten aus dem Ärmelkanal ebenso wie den allein in diesem Jahr mehr als 1.500 Ertrunkenen aus dem Mittelmeer das Versagen Europas. Einige Länder verhindern jeden vernünftigen und menschlichen Aufnahme- und Verteilmechanismus. Gleichzeitig werden wegen einer allgemeinen politischen Rechtsdrift die Grenzen immer mehr militarisiert und abgedichtet. Daher sind Tragödien wie die an diesem Mittwoch zwangsläufige Folge.

Und die Toten aus den polnischen Wäldern kann man gleich dazu rechnen - das Sterben all dieser Menschen wird in Kauf genommen, weil angeblich die Wähler nichts als harte Abwehr von Flüchtlingen wollen. Die Wortwahl in der jüngsten Debatte über die Flüchtlingskrise an der Grenze von Belarus und Polen zeigt, dass sich die politische Wetterlage in der EU gedreht hat. Es ist nur noch von "hybrider Bedrohung und Kriegführung" die Rede und die erfrierenden Menschen in den polnischen Wäldern spielen kaum eine Rolle. Die neue EU-Flüchtlingspolitik ist unter dem Gesichtspunkt der Humanität einfach eine Schande.