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Wo ist "mein" Brasilien?

29. Oktober 2022

In Brasilien leben nicht nur Anhänger Bolsonaros. Auch wenn die Spaltung bei den Stichwahlen auf die Spitze getrieben wird: Sie kann überwunden werden, meint Astrid Prange de Oliveira, für die das Land zweite Heimat ist.

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Astrid Prange de Oliveira 1989 bei einem Kongress von Straßenkindern zwischen drei schwarzen männlichen Jugendlichen
Als Brasilienkorrespondentin beim Kongress der Bewegung für Straßenkinder 1989 in BrasiliaBild: privat

Ist das noch "mein" Brasilien? Das Land der menschlichen Wärme, der Lebensfreude und Ausgelassenheit, das mir ans Herz gewachsen ist? Das Land, in dem ich acht Jahre gelebt, zwei Kinder zur Welt gebracht und die Liebe meines Lebens gefunden habe?

Ich stelle mir diese Frage, weil Brasilien sich verändert hat. Seit vier Jahren regiert dort Präsident Jair Messias Bolsonaro. Und seit vier Jahren zeigt sich das Land von einer verstörenden, alles andere als lebensfrohen Seite.

Millionen von Menschen haben damals und auch jetzt wieder im ersten Wahlgang für einen Mann gestimmt, der aus seiner menschenverachtenden Haltung nie ein Geheimnis gemacht hat. Sätze wie "Der große Fehler der Militärdiktatur in Brasilien war, zu foltern statt zu töten", und "Meine Söhne laufen nicht Gefahr, schwul zu werden oder eine schwarze Freundin zu haben, denn sie sind gut erzogen worden", sprechen für sich selbst.

Das andere Brasilien

Die Bezeichnung von Corona als "kleine Grippe" und der Kommentar zu den Todesopfern der Pandemie "Na und? Es tut mir leid. Aber was soll ich machen? Ich heiße zwar Messias, aber ich vollbringe keine Wunder!", zeigen mangelnde Empathie und Verantwortungslosigkeit. An der Pandemie starben in Brasilien über 600.000 Menschen.

Kommentarbild Astrid Prange
DW-Redakteurin Astrid Prange de OliveiraBild: DW/P. Böll

Die Liste dieser verstörenden Zitate ließe sich endlos fortsetzen. Bolsonaro tritt am 30. Oktober in der Stichwahl gegen seinen Herausforderer Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva an. Laut der jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts "DataFolha" vom 27. Oktober wird die die Stichwahl ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Lula liegt in der Umfrage bei 49 Prozent, Amtsinhaber Bolsonaro bei 44 Prozent. 

Doch unabhängig vom Ausgang der Wahl am Sonntag zeigt diese Umfrage, dass Brasiliens Bevölkerung nicht nur aus Menschen besteht, die sich mit den Werten und der Politik dieses selbst ernannten Patrioten identifiziert. Auch wenn jener die Berichterstattung dominiert.

"Ausweg aus der Hölle"

Beim ersten Urnengang am 2. Oktober wählten 51 Millionen Menschen (43%) Bolsonaro und 57 Millionen Menschen (48%) Lula. Eine brasilianische Freundin von mir bringt in ihrem Instagram-Post die aktuelle Stimmung in vielen Teilen des Landes auf den Punkt: "Lula ist gewiss nicht die Tür zum Paradies, aber der Ausweg aus der Hölle."

Traurig, aber wahr: Viele meiner brasilianischen Freunde haben seit vier Jahren das Gefühl, in der Hölle zu leben. Fast alle haben während der Corona-Pandemie Angehörige verloren. Ihre Kinder sind ausgewandert, weil sie in Brasilien für sich zurzeit keine Zukunft sehen.

Viele sind erschöpft von den menschlichen Tragödien, der politischen Manipulation und der wachsenden Armut. Sie wollen, dass Hoffnung und menschliche Empathie zurückkehren. Dass die Verunglimpfung und Beschimpfung politischer Gegner ein Ende hat und die Flut von Fake News abebbt.

Sie wollen, dass die Unterwanderung und Diskreditierung demokratischer Institutionen aufhört. Und dass die Idealisierung der brasilianischen Militärdiktatur (1964 bis 1989) von höchster Stelle ein Ende hat - genauso wie die regelmäßigen Andeutungen von einer möglichen Rückkehr der Generäle.

Kampf für den Erhalt demokratischer Rechte

Als ich 1989 nach Brasilien ausgewandert bin, haben Millionen von Menschen auf der Straße freie Wahlen gefordert. Sie haben ihr Ziel erreicht. Am 15. November 1989 fanden in Brasilien die ersten freien Wahlen nach der Militärdiktatur statt.

In den vergangenen vier Jahren haben viele Brasilianerinnen und Brasilianer erneut für den Erhalt demokratischer Rechte und Institutionen demonstriert - trotz vieler Anfeindungen. Ich bewundere sie für ihr Durchhaltevermögen, ihre Leidensfähigkeit und Ausdauer. Dies ist "mein" Brasilien. Es existiert auch noch nach vier Jahren Bolsonaro, dank ihres Einsatzes.

Wie viele Brasilianerinnen und Brasilianer zuweilen hadere ich mit dem Land und habe zuweilen das Gefühl, mich von meiner zweiten Heimat zu entfernen. Ich bange um "mein" Brasilien. Es fehlt mir sehr.