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PolitikEuropa

Polen: Abtreibungsaktivistin vor Gericht

21. Oktober 2022

Eine polnische Menschenrechtsaktivistin gab einer Frau, die ihre Schwangerschaft abbrechen wollte, Abtreibungspillen. Jetzt wird ihr der Prozess gemacht. Ihr drohen drei Jahre Haft.

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Abtreibungsbefürworterinnen demonstrieren am 14.10.2022 vor dem Gericht in Warschau
Abtreibungsbefürworterinnen demonstrieren am 14.10.2022 vor dem Gericht in WarschauBild: Monika Sieradzka/DW

Es ist ein grauer Morgen in der polnischen Hauptstadt Warschau. Ein paar Dutzend Polizisten und zehn große Polizeiwagen umkreisen ein Gerichtsgebäude. Sie sollen an diesem Freitag (14.10.2022) zwei Demonstrationen schützen, die hier stattfinden und einen spektakulären Prozess begleiten.

Direkt vor dem Gerichtseingang haben sich rund 50 Personen versammelt, um ihre Solidarität mit Justyna Wydrzynska zu bekunden. Der 48-jährigen Aktivistin des Frauennetzwerks "Abortion Dream Team" wird Beihilfe bei einer Abtreibung vorgeworfen. Nach polnischem Recht ist das verboten und kann mit drei Jahren Gefängnis bestraft werden.

Ein Lastwagen mit einem großen Plakat, das einen abgetriebenen Fötus zeigen will, steht vor einem Gerichtsgebäude in Warschau, zwei Sicherheitskräfte schützen den LKW
Abtreibungsgegner sind mit einem Lastwagen vor dem Gerichtgebäude aufgefahrenBild: Monika Sieradzka/DW

Auf der anderen Straßenseite stehen sechs Gegendemonstranten mit dem riesigen Foto eines abgetriebenen Fötus. Ihre katholischen Gebete und Protestrufe gegen Abtreibung dröhnen aus Lautsprechern. Doch allmählich wird ihr Skandieren von den Parolen und Trommeln der Teilnehmer der Solidaritätsaktion übertönt, unter denen auch Aktivisten und Aktivistinnen aus anderen Ländern sind.

In Polen herrscht ein fast totales Abtreibungsverbot

Jeder Prozess um Abtreibung weckt in Polen starke Emotionen. Das Land hat neben Malta die restriktivsten Abtreibungsregelungen in ganz Europa. Demnach ist ein Schwangerschaftsabbruch nur dann möglich, wenn die Schwangerschaft eine Folge von Vergewaltigung ist oder wenn das Leben oder die Gesundheit der schwangeren Frau in Gefahr ist.

Noch bis vor zwei Jahren war Abtreibung auch noch bei Fehlbildungen des Fötus zugelassen. Das Verfassungstribunal, das unter die Kontrolle der national-konservativen Regierung der Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) gestellt wurde, hat aber auch diese Prämisse gestrichen. Das bedeutet, dass auch schwerbehinderte Kinder ohne Überlebenschancen zur Welt gebracht werden müssen. Das entspricht auch der Lehre der katholischen Kirche in Polen.

Das Recht auf Abtreibung als Teil der Menschenrechte

"Der polnische Staat ist frauenfeindlich", sagt Justyna Wydrzynska vor dem Gerichtssaal im Gespräch mit der DW. Sie hat Tränen in den Augen. Mit jedem Gerichtstermin müsse sie mehr zittern, doch sie stehe zu ihrer Tat. "Ich habe nichts Illegales gemacht. Ich habe einer Frau in Not geholfen, indem ich mit ihr meine eigenen Abtreibungspillen geteilt habe. Einer Person in Not zu helfen ist nicht strafbar. Ich habe diese Frau weder zur Abtreibung überredet, noch sie dabei begleitet", erklärt sie.

Justyna Wydrzynska (Mitte) wird von ihren Mitstreiterinnen Kinga Jelinska und Natalia Broniarczyk vom Abortion Dream Team unterstützt
Justyna Wydrzynska (Mitte) mit Mitstreiterinnen vom Abortion Dream Team unterstütztBild: Monika Sieradzka/DW

Und Justyna Wydrzynska würde dasselbe wieder tun, denn seit langem setze sie sich für die Liberalisierung des Abtreibungsrechts ein. "Ich kämpfe um Menschenrechte, das Recht auf Abtreibung gehört dazu", sagt sie. Sie ist sichtbar gerührt, als vor dem Gerichtsgebäude mehrere Menschen auf sie zugehen und sie umarmen. Die Unterstützer und Unterstützerinnen skandieren die Worte, mit denen auch Justyna und ihr "Abortion Dream Team" Frauen in Not Mut machen: "Du wirst nie allein gehen."

Polinnen treiben im Ausland ab

Nach dem Gerichtstermin geht für die angeklagte Aktivistin der Alltag weiter. Justynas Telefon klingelt oft, sie ist fast jeden Tag mehrere Stunden unter einer Notrufnummer für Frauen zu erreichen. Sie wechselt sich mit ihren beiden Freundinnen vom "Abortion Dream Team" ab. "Wenn Frauen anrufen, stellen wir ihnen zunächst die wichtigste Frage: In welcher Woche der Schwangerschaft sind sie? Bis zur 12. Woche empfehlen wir Abtreibungspillen, danach ist eine chirurgische Abtreibung besser", erklärt Justyna. Zur chirurgischen Abtreibung fahren die Polinnen derzeit nach Deutschland, nach Österreich, nach Tschechien oder in die Niederlande.

Justyna und ihr "Abortion Dream Team", aber auch andere Organisationen, die dem Dachverband "Aborcja bez Granic" (Abtreibung ohne Grenzen) angehören, sind im ständigen Kontakt mit Volontärinnen in diesen Ländern, meist Migrantinnen mit polnischem Hintergrund, die ihren "Schwestern", wie sie sagen, bei der Abtreibung im jeweiligen Gesundheitssystem helfen. "Der polnische Staat zwingt die Frauen dazu, Tausende Kilometer ins Ausland zu fahren, um abtreiben zu können", ärgert sich Justyna.

Die Abtreibungspille ist in Polen verboten

"Frauen, die mit Pillen abtreiben wollen, rate ich, sich an die Portale der internationalen Frauennetzwerke womenhelp.org und womenonweb.org zu wenden. Dann bekommen sie die Abtreibungspillen aus dem Ausland zugeschickt. Zum Glück kommen die Medikamente in Polen an, die Frauen können sich meistens darauf verlassen", sagt Wydrzynska. Die Abtreibungspille mit dem Wirkstoff Mifepriston, die fast überall in Europa zugänglich ist, kann man nämlich in polnischen Apotheken nicht kaufen.

Auch aus Sicherheitsgründen ist das Versenden aus dem Ausland vorzuziehen. Trotzdem hat Justyna es vor einigen Jahren riskiert, einer Frau, die ihre Schwangerschaft abbrechen wollte, selbst Abtreibungspillen zu schicken. Um ihre Identität zu schützen, nennt Justyna diese Frau Ania. "Ania hat bei uns angerufen und hat mit meiner Kollegin gesprochen. Als ich dann von Anias Situation hörte, entschied ich mich, ihr zu helfen und habe ihr Pillen, die ich zu Hause für meinen eigenen Gebrauch hatte, geschickt", erzählt Justyna.

Justyna Wydrzynska, hier im Warschauer Gericht
Justyna Wydrzynska, hier im Warschauer GerichtBild: Monika Sieradzka/DW

Anias Notlage habe sie bewegt und sie sehr an ihr eigenes Schicksal erinnert. "Ania hatte schon ein Kind mit ihrem Ehemann und wollte kein zweites, weil sie sich in ihrer Beziehung unterdrückt fühlte. Vor vielen Jahren ging es mir auch so. Ich hatte schon drei Kinder und steckte in einer toxischen Ehe. Als ich zum vierten Mal schwanger wurde, wollte ich das Kind mit diesem Mann nicht mehr haben und habe abgetrieben", sagt Justyna.

Der erste Prozess dieser Art

Beim Verschicken der Pillen musste Justyna vorschriftsgemäß ihre Absenderadresse auf den Briefumschlag schreiben. Anias Ehemann, der laut Berichten polnischer Medien ein katholischer Aktivist sein soll, der seine Frau von der Abtreibung habe abbringen wollen, sei aber auf das Kuvert mit den Pillen gestoßen. Er meldete es bei der Polizei. Kurz danach wurde Justynas Wohnung durchsucht, und sie selbst saß auf der Anklagebank mit dem Vorwurf, bei der Abtreibung mitgeholfen zu haben.

Zwei männliche Abtreibungsgegner demonstrieren mit einem großen Transparent, auf dem ein angeblich abgetriebener Fötus gezeigt wird, vor dem Gericht in Warschau
Abtreibungsgegner demonstrieren vor dem Gericht in WarschauBild: Monika Sieradzka/DW

Der präzedenzlose Prozess wird im Januar 2023 fortgesetzt werden. Dann werden vermutlich Ania und ihr Ehemann als Zeugen gehört. Das Urteil wird für Februar erwartet.

Im Jahr 2021 haben in Polen 34.000 Frauen Hilfe beim Schwangerschaftsabbruch bei Frauenorganisationen gesucht. Die meisten haben Abtreibungspillen aus dem Ausland bekommen, über 1500 von ihnen mussten in anderen Ländern abtreiben. Im selben Jahr wurden in polnischen Krankenhäusern 107 Abtreibungen durchgeführt, zehnmal weniger als vor der Verschärfung des Abtreibungsgesetzes im Jahr 2020. 

Porträt einer Frau mit kurzen blonden Haaren und blauen Augen
Monika Sieradzka DW-Korrespondentin in Warschau