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Politik

Polen: Eskalation an der Grenze zu Belarus

Magdalena Gwozdz-Pallokat
10. November 2021

Die Migrationskrise an der polnisch-belarussischen Grenze spitzt sich immer mehr zu. In Polen bewegt sich die Debatte weg vom vielbeachteten Los wehrloser Frauen und Kinder im Wald hin zur Gefahr für die EU-Außengrenze.

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Migranten an der Grenze Belarus - Polen
Migranten an der polnisch-belarussischen Grenze am 8.11.2021Bild: Leonid Scheglov/BelTA/REUTERS

Es ist wie ein Déjà-vu. Bilder, die man in Polen nur aus anderen Ländern kannte, kommen nun zum ersten Mal von der eigenen Grenze. Die Aufnahmen, die von der polnischen Polizei über soziale Medien verbreitet werden, versehen mit den markigen Worten "Schutz der Grenzen am Boden und aus der Luft", zeigen Zelte von Migranten, die aus Belarus kommen. Ihnen gegenüber polnische Polizisten unter Helmen und mit Schutzschilden vor der Brust. Das Ganze begleitet von Hubschraubergeräuschen inmitten sonst einsamer und stiller Wälder. Es ist eines von vielen Videos, die in diesen Tagen von den polnischen Behörden veröffentlicht wurden und nun im Netz kursieren.

Der polnische Staat kontrolliert, was die Welt von polnischer Seite aus zu sehen bekommt vom Geschehen an der Grenze zu Belarus. Denn für Journalisten ist der drei Kilometer breite Grenzstreifen seit Wochen tabu. Kein Reporter kann sich seit September mehr ein eigenes Bild von der Lage vor Ort machen. Die Grenzanlagen zu filmen, ist verboten. Was bleibt, ist das Warten auf die nächsten offiziellen Bilder. Deren Sprache hat sich in den vergangenen Tagen signifikant verändert: Familien mit Kindern, stecken geblieben im Unterholz, sind nun kaum mehr zu sehen. Nun sieht man überwiegend junge, randalierende Männer - Bilder, die kein Mitleid erwecken.

"Hybrider Angriff Lukaschenkos"

Derartige Bilder posteten polnische Behörden auch am Mittwoch morgen (10.11.2021). In der Nacht zuvor hatten mehrere Dutzend Menschen offenbar die Grenzsperren überwunden. Die Behörden sprechen von zwei größeren Gruppen in der Nähe des Urwalds Bialowieza; laut Medienberichten ging es um eine Gruppe von 200 und eine weitere von 60 Personen. Am Mittwoch morgen sprach der polnische Verteidigungsminister von "vielen Versuchen", nach Polen zu gelangen. Die Nacht sei nicht ruhig gewesen, doch sämtliche Migranten seien aufgehalten worden. Der belarussische Grenzschutz hielt propagandistisch dagegen: Er veröffentlichte Aufnahmen blutender Migranten, die angeblich von polnischen Grenzschützern gewaltsam über die Grenze zurückgedrängt worden waren. Unabhängig überprüfen lassen sich die Bilder nicht.

Migranten an der Grenze Belarus - Polen
Migranten an der polnisch-belarussischen Grenze versuchen am 8.11.2021 den Grenzzaun zu überwindenBild: Leonid Scheglov/BelTA/REUTERS

Im Sejm, dem polnischen Parlament, fand wegen der Eskalation an der Grenze zu Belarus am Dienstag (9.11.2021) nachmittag eine Sondersitzung statt. Polens Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak referierte dazu: "Die Lage, mit der wir es aktuell an der Grenze zu tun haben, ist der härteste Test für unsere Dienste seit Jahren. Die polnischen Soldaten, der Grenzschutz und die Polizei bestehen diese Prüfung ausgezeichnet. Jeden Tag leisten sie eine gigantische Arbeit, um ihr Heimatland vor dem hybriden Angriff des Regimes von Diktator Lukaschenko zu schützen." Blaszczak erinnerte daran, dass die national-konservative PiS-Partei schon 2015 davor gewarnt habe, wohin unkontrollierte Migration führen könne. "Die Politik der offenen Tür führte zu Terroranschlägen in Westeuropa. Ich empfinde bittere Genugtuung darüber, dass die EU zugegeben hat, dass wir Recht hatten", so Polens Verteidigungsminister. Die aktuellen Gewaltszenen an der Grenze zu Belarus bezeichnete er als "Akte der Aggression", die von der Grenze auf polnische Städte übergreifen könnten.

Im Extremfall völlige Grenzschließung

Die polnischen Grenzsoldaten hingegen hätten professionell und "unter voller Wahrung der Menschenwürde" agiert, hatte Blaszczaks Parteifreund, der Premierminister Mateusz Morawiecki bei einem Besuch bei den Grenztruppen im Morgengrauen gelobt. Später im Sejm versicherte Morawiecki, dass der geltende lokale Ausnahmezustand nicht in einen allgemeinen Kriegszustand übergehen werde. Die Regierung bereite sich aber auf monate- oder sogar jahrelange Provokationen seitens des belarussischen Machthabers Lukaschenko vor. "An der Ostgrenze haben wir es nicht nur mit direkter Gewaltanwendung gegen den souveränen polnischen Staat zu tun, sondern mit einer Inszenierung, deren Ziel es ist, die polnische Grenze zu verletzen und Chaos zu stiften", so Polens Regierungschef.

Migranten an der Grenze zwischen Polen und Weißrussland | Mateusz Morawiecki
Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki (2.v.l.) an der Grenze zu Belarus am 9.11.2021Bild: Polish Ministry Of Defence/Getty Images

Es ist ein Vorwurf an Lukaschenkos Regime, der nun auch von anderer Seite erhoben wird: Der frühere belarussische Diplomat und Kulturminister Pawel Latuschka spricht in polnischen und internationalen Medien davon, dass belarussische Geheimdienst- und Sicherheitskräfte gezielt ehemalige afghanische und irakische Kämpfer ausbilden würden, damit sie an der Grenze zu Polen gewalttätige Auseinandersetzungen und einen bewaffneten Konflikt provozieren. Sollte das stimmen, wäre eine neue Eskalationsstufe erreicht. Polen setzt sich deswegen bereits jetzt dafür ein, die Sanktionen gegen Belarus zu verschärfen und den europäischen Luftraum vollständig für Fluggesellschaften zu sperren, die Migranten dorthin bringen. Ein Regierungssprecher schloss am Mittwoch auch erstmals nicht mehr ganz aus, dass Polen die Grenze zu Belarus komplett schließen könnte. Es handele sich um eine "nukleare Option" für den Extremfall. Man habe die belarusische Seite über diese Erwägungen informiert, aber keine Antwort erhalten.

Keine Hilfsanfrage an die EU

Mehrmals appellierten Vertreter der Regierungspartei PiS bei der Sondersitzung im Sejm am Dienstag an die Opposition, in dieser Frage Einigkeit zu zeigen. Der frühere Verteidigungsminister Tomasz Siemoniak von der größten oppositionellen Kraft, der Bürgerkoalition (KO), mahnte jedoch, für eine solche Einheit bräuchte man einen Dialog, davon sei aber nichts zu sehen. Außerdem höre er seitens der Regierung keinen Vorschlag, wie die Krise zu bewältigen sei. Er frage sich, wieso Polen sich nicht an die NATO wende und Konsultationen gemäß Artikel 4 des Nato-Vertrags anstrebe, der ersten Stufe des Bündnisfalles. Vehement fordert die polnische Opposition die Führung des Landes auf, internationale Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es sei "höchste Zeit, das Kriegsbeil mit der EU zu begraben".

Migranten an der Grenze zwischen Polen und Weißrussland
Polnische Polizisten und Soldaten sichern einen Grenzzaun am 9.11.2021Bild: Leonid Shcheglov/BELTA/AFP/Getty Images

Auch eine aktuelle Umfrage deutet darauf hin, dass eine große Mehrheit der Polen Hilfe von der EU begrüßen würde. Doch die Regierung stellte sich in diesem Punkt bislang quer. "Wir haben den besten Grenzschutz Europas", hatte Innenminister Mariusz Kaminski bereits Ende September erklärt. Zur Verstärkung von Grenzschutz und Polizei sind derzeit nach offiziellen Angaben zusätzlich 13.000 polnische Soldaten im Einsatz. Humanitäre Organisationen wie die Caritas oder das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR lässt die Regierung hingegen weiterhin nicht in die Nähe der Grenze.

Minustemperaturen im Grenzgebiet

Derweil fielen die Temperaturen in der Nacht zum Mittwoch (10.11.2021) auf Minusgrade. Das Rechercheportal OKO.press zitiert einen Iraker namens Wshyar, der in dem bei Kuznica aufgestellten Zeltlager hausen soll. "Wir haben viele kranke Kinder hier", sagt er dem Portal. "Die Menschen sind ratlos. Bei diesem Wetter werden wir nicht überleben. Die belarussichen Grenzsoldaten lassen uns nicht nach Minsk zurück."

Nach Schätzungen des polnischen Grenzschutzes befinden sich derzeit rund 800 Menschen bei dem am Dienstag morgen geschlossenen Grenzübergang bei Kuznica. Insgesamt würden in direkter Grenznähe derzeit bis zu 4000 Menschen auf eine Chance warten, unerlaubt über die Grenze nach Polen zu kommen, schätzen polnische Behörden, tausende weitere würden in Belarus noch auf einen Transport ins Grenzgebiet warten.

Warenverkehr soll weiter fließen

Einem belarussischen Bericht zufolge hatten sich Teilnehmer des Marsches auf den Grenzzaun vom Montag selbständig verabredet, um ein Zeichen zu setzen. Sie wären demnach in diesem Fall nicht vom belarussischen Regime animiert worden. Unweit des Grenzübergangs hätten belarussische Kräfte die Menschen aber seitlich zum Zaun abgedrängt, so diese Darstellung. Eine, die auch der Journalist Michal Karcewicz vom aus Polen sendenden Fernsehen Bielsat für stichhaltig hält. Dieser Umstand zeuge davon, wie wichtig es Lukaschenko sei, dass trotz allen Durcheinanders an der Grenze der Warenverkehr weiter fließe.

Belarus Migranten im Grenzgebiet zu Polen
Migranten im polnisch-belarussischen Grenzgebiet wärmen sich an einem FeuerBild: Leonid Shcheglov/BelTA/AP/dpa/picture alliance

Das polnische Staatsfernsehen interviewte am Montag (8.11.2021) Lastwagenfahrer, die in Laufweite der Tumulte an der Grenze unbehelligt abgefertigt worden waren. Erst am Dienstag morgen wurde dieser eine Grenzübergang von Polen aus geschlossen. Andere hingegen sind weiter in Betrieb. Manche polnischen Belarus-Experten glauben, kaum etwas träfe das Minsker Regime härter, als wenn es sich seiner Rolle als Transitland zwischen Russland und dem Westen beraubt sähe, da mit dem Handel erhebliche Einnahmen verbunden sind.

Keine Krisenlösung in Sicht

"Grenzschließungen sehen wir zur Zeit nicht vor", meinte PiS-Fraktionschef Ryszard Terlecki dazu am Dienstag vor Journalisten. "Sanktionen, die eine totale Grenzschließung beinhalteten, würden auch den polnischen und europäischen Warentransport empfindlich treffen", so Terlecki. Man müsse in dem Punkt "vernünftig" handeln.

Das Fazit nach der Sondersitzung im Sejm: In der eskalierenden Migrationskrise an der Grenze zu Belarus ist derzeit keine Lösung in Sicht - Polen und damit auch die EU steuern auf einen für viele Menschen möglicherweise tödlichen Winter zu, denn im polnischen Nordosten sind zweistellige Minusgrade und viel Schnee keine Seltenheit. Dem Déjà-vu einer gefühlt schon einmal erlebten Migrationskrise könnten dann Bilder folgen, die es so seit 2015 noch nicht gab.

Magdalena Gwozdz-Pallokat
Magdalena Gwozdz-Pallokat Korrespondentin DW Polski, HA Programs for Europe, Warschau, Polen