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PolitikPolen

Hilfe für Flüchtlingskinder mit Behinderung

Manuel Orbegozo
17. April 2022

Für ukrainische Kinder mit Behinderungen ist die Flucht traumatisch. Doch schon in der Ukraine hatten sie es oft schwer. In Polen finden sie häufig bessere Bedingungen. Ehrenamtliche Organisationen helfen den Familien.

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Victoria Mostovenko mit ihrer Tochter Sofia
Victoria Motsovenko und ihre Tochter Sofia wollen nach dem Krieg in die Ukraine zurückkehrenBild: Manuel Orbegozo

Als die ersten verwundeten Soldaten in das Krankenhaus in Kiew eingeliefert wurden, wusste Victoria Mostovenko, dass ihr nur wenig Zeit bleiben würde, ihre Tochter Sofia in das nächstgelegene medizinische Zentrum zu bringen. Die Vierjährige leidet an Zerebralparese und Epilepsie und brauchte dringend medizinische Hilfe gegen eine Lungenentzündung.

Es folgten zwei schwierige Reisetage in verschiedenen, speziell für Intensivpatienten ausgestatteten Rettungswagen, bis die 36-Jährige und ihre Tochter ihr Ziel erreichten. Sie gehören jetzt zu den ukrainischen Eltern von Kindern mit Entwicklungsstörungen, denen die Flucht vor dem Terror der russischen Armee nach Polen gelungen ist. Hier sind Familien wie die von Mostovenko weniger stigmatisiert als in der Ukraine und ihre Kinder haben bessere Chancen auf eine spezialisierte Schulbildung. Nach Angaben des European Disability Forums, einer Dachorganisation europäischer Behindertenverbände, leben in der Ukraine 2,7 Millionen Menschen mit geistigen Behinderungen.

Victoria Mostovenko mit ihrer Tochter Sofia
Geflüchtete bekommen wichtige Unterstützung von polnischen GruppenBild: Manuel Orbegozo

Seit ihrer Ankunft in Krakau helfen NGOs wie Stowarzyszenie Patchwork und Special School 11 Victoria Mostovenko und ihrer Tochter dabei, sich in Polen einzuleben. Gegründet wurde Stowarzyszenie Patchwork von vier ukrainischen und einer russischen Mutter von Kindern mit Entwicklungsstörungen, sowie einer Sonderpädagogin aus Russland. Seit Beginn des russischen Einmarsches hat die Organisation 50 ukrainische Familien in Krakau intensiv bei ihrem Neuanfang begleitet.

Eine passende Wohnung zu finden und eine langfristige Therapie, die Sprachbarrieren und finanzielle Unabhängigkeit - das sind die Hauptsorgen der ukrainischen Flüchtlingsfamilien mit Kindern mit Behinderungen.

"Wir helfen ihnen dabei, auf eigenen Füßen zu stehen, unterstützen sie bei ihren ersten Schritten im Integrationsprozess", sagt Khrystyna Rudenko, eine der Gründerinnen von Stowarzyszenie Patchwork und Bachyty Sercem, einer in der Ukraine ansässigen gemeinnützigen Organisation, die für Familien mit Behinderungen tätig ist. "Wir helfen bei der Beantragung polnischer Behindertenausweise oder dabei, einen Kindergartenplatz oder Schulplatz zu bekommen. Denn wir können uns noch gut daran erinnern, wie schwer es war, als wir in Polen ankamen."

Khrystyna Rudenko
Khrystyna Rudenko leitet einige der Gruppen, die ukrainische Familien unterstützenBild: Manuel Orbegozo

Rudenko verließ die Ukraine 2014 zunächst in Richtung Deutschland und kam dann nach Polen. Die medizinische Behandlung, die ihre Tochter, die ebenfalls an Zerebralparese und Epilepsie leidet, dort erhielt, ist in der Ukraine nur schwer zu bekommen. Dank polnischer Spezialisten, so erzählt Rudenko, lernte ihre Tochter Sonia innerhalb weniger Monate, selbstständig zu essen: "Sie bewirkten Wunder, von Anfang an." Sie möchte, dass ukrainische Flüchtlingsfamilien dieselben Möglichkeiten bekommen.

Neue Behandlungsmethoden für die Ukraine

Viele der betroffenen Familien wollen sich genau aus diesen Gründen in Polen niederlassen. Andere, darunter auch Mostovenko, hoffen jedoch, bald wieder in die Ukraine zurückkehren zu können und dort zu helfen, fortschrittlichere Ansätze bei der Behandlung von Kindern mit Entwicklungsstörungen zu etablieren.

"Die meisten Krampfanfälle von Sofia werden durch CBD gemildert", berichtet Mostovenko. Sie schwört auf die hohe Wirksamkeit dieses Wirkstoffs aus Marihuana. In Polen gibt es CBD legal, in der Ukraine bewegt man sich in einer Grauzone, was die Beschaffung schwierig und riskant macht.

Vor dem Krieg ließ Mostovenko sich CBD aus den USA nach Polen schicken. Freunde schmuggelten es dann im Gepäck oder Erste-Hilfe-Kasten in die Ukraine. Sie ist überzeugt, dass auch das Schmerzmanagement von verwundeten Soldaten erleichtert würde, wenn medizinisches Cannabis in der Ukraine schneller legalisiert würde. 

In Kiew und anderen größeren Städten gibt es bessere - allerdings private - Einrichtungen für palliative Pflege. Jenseits dieser Zentren und im öffentlichen Gesundheitswesen existiert sie in der Ukraine nur auf dem Papier, erklärt Mostovenko. Oft beschränke sie sich auf die Versorgung mit Windeln und anderem Pflegematerial.

Die psychischen Folgen der Flucht

Natalia Abramova, ebenfalls mit Kind aus der Ukraine geflüchtet, stimmt zu. Ihr 20-jähriger Sohn Anton leidet an Autismus und schwerer Epilepsie. 2014 mussten die beiden ihren Heimatort Sewerodonezk im Donbass verlassen. Die Anerkennung der Separatistengebiete in der Ostukraine durch die russische Regierung war für sie das Signal, kurz vor Ausbruch des Krieges dort wegzugehen.

Anton Abramov
Für autistische Kinder wie Anton war die Flucht aus der Ukraine besonders traumatischBild: Manuel Orbegozo

"Antons Welt liegt in Trümmern, nicht durch die Bomben, sondern durch all die Veränderungen", erklärt Abramova. Die Evakuierung hat ihn sehr fragil gemacht, er reagiert viel sensibler auf Lärm und Menschenmengen. Einige Tage nach seiner Ankunft in Krakau, als die Nachbarn an die Tür klopften, um sich über Lärm zu beschweren, erlitt er einen Grand mal-Anfall, einen heftigen epileptischen Anfall mit  Bewusstlosigkeit. An Abramovas Armen sind noch immer frische Schürfwunden zu sehen. "Ich brauche meine ganze Kraft, um zu überleben", gesteht sie.

"Dass er nicht nach Hause kann, dass er seine Katze, die sein bester Freund war, vielleicht nie mehr wiedersehen wird, all das hat schlimme Folgen", klagt sie: "Ich glaube, er hat jetzt Depressionen."

Hauptsorge Wohnraum

Große Sorgen macht Abramova die Suche nach einer passenden Wohnung. Die 56-Jährige und ihr Sohn leben in Krakau in einer Einzimmerwohnung, die Abramova mit einem Bücherregal unterteilt hat. Damit möchte sie Anton das Gefühl geben, wie zuhause in Sewerodonezk ein eigenes Zimmer zu haben. Dank Zuwendungen von Stowarzyszenie Patchwork leben sie bisher mietfrei, doch ab dem 1. Mai sind sie auf sich gestellt.

"Wir müssen hier mindestens die nächsten fünf Jahre bleiben, damit Anton in die Schule gehen kann", meint Abramova. Sonderpädagogischer Unterricht ist an polnischen Schulen bis zum Alter von 24 Jahren möglich, in der Ukraine nur bis 18.

Natalia Abramova mit ihrem Sohn Anton
Natalia Abramova hofft, dass sie mit ihrem Sohn Anton die nächsten Jahre in Polen bleiben kannBild: Manuel Orbegozo

2010 gründete Abramova in in ihrer Heimat Sewerodonezk den Verein Regenbogenkinder, der bis zum Beginn des Krieges im Jahr 2014 Kinder mit Entwicklungsstörungen betreute. Ohne staatliche Finanzierung und inmitten eines weiteren Krieges bleibt der Organisation jedoch nur noch die Vernetzung zwischen den Eltern. "Die postsowjetischen Länder haben sich nie um Menschen mit Behinderungen gekümmert", sagt Abramova. "Sie wollten sie nicht sehen, sie wollten keine staatlichen Gelder für sie ausgeben."

Viele Familien werden bald auf sich alleine gestellt sein, ob in Polen oder in der Ukraine. Obwohl ihrer Organisation das Geld ausgeht, will Rudenko weiter unterstützen, wo es nur geht: "Wir sind weiter für sie da."

Aus dem Englischen adaptiert von Phoenix Hanzo.