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Was ist ein Humboldt?

Timothy Rooks cb
10. September 2019

Alexander von Humboldt ist in ganz Deutschland und Südamerika bekannt. Aber als DW-Autor Timothy Rooks zum ersten Mal von ihm hörte, hatte er keine Ahnung, was "ein Humboldt" war. So begann eine 15-jährige Leidenschaft.

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Alexander von Humboldt Porträt in der Akademie der Wissenschaften Berlin-Brandenburg
Bild: Berlin-Brandenburg Akademie der Wissenschaften/Foto: T. Rooks

Seit rund 15 Jahren suche ich nun schon nach Alexander von Humboldt. Das sollte eigentlich nicht allzu schwer sein, schließlich ist sein Lebens- und Schaffensweg so gut dokumentiert, wie von kaum einer anderen wichtigen Figur aus dem 18. und 19. Jahrhundert.

Humboldt war Preußens größter Wissenschaftler. Über lange Strecken seines Lebens konnte fast jeder seiner Tage rekonstruiert werden. Wir wissen, dass er Napoleon zum ersten Mal am 28. Oktober 1804 traf; dass er am 23. Oktober 1818 gemeinsam mit dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. und dem russischen Zaren Alexander eine Truppenbesichtigung in Valenciennes, Frankreich, vornahm; und dass er seinen letzten Geburtstag im Jahr 1858 mit der preußischen Königin auf Schloss Sanssouci verbrachte.

Obwohl Humboldt eine Abneigung gegen Biografien hatte - er nannte sie "eine lästige Notwendigkeit"- gibt es eine Vielzahl über ihn, lang und kurz, in vielen Sprachen.

Auch erschienen illustrierte Ausgaben seiner eigenen Arbeiten, sowie Bücher mit Portraits des Forschers. Zudem gibt es eine wachsende Anzahl von Nachdrucken und kommentierten Editionen seiner bekanntesten Werke. Es gibt sogar ein Buch über seine Biografien.

Dutzende seiner Briefe wurden veröffentlicht und seit 1958 beschäftigt sich ein kleines Forschungsteam an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften mit der Entzifferung und Publizierung seiner handschriftlichen Manuskripte.

Ein Regal voll mit Büchern über Alexander von Humboldt
Ein Regal voll mit Büchern über Alexander von HumboldtBild: T. Rooks

Es ist kaum möglich, alle seine Bücher und die fast 1000 veröffentlichten Essays, Artikel und anderen Schriften zu lesen, die zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurden. Selbst wer es schafft, dem zeigen all diese Dokumente, Briefe und Bücher nicht den Menschen Humboldt selbst.

Wer war er? Wie war er wirklich? War er glücklich? Was bedeuteten seine engen Freundschaften mit mehreren jungen Männern? Was bereute er in seinem Leben am meisten? Wenn man von Humboldts Abenteuern und wissenschaftlichen Arbeiten absieht, bleiben viele Fragen offen, von denen einige nicht mehr beantwortet werden können.

Spurensuche in Berlin

Als ich nach Berlin kam, um an der Humboldt Universität zu studieren, hatte ich keine Ahnung, was ein Humboldt war. Erst nach Monaten stellte ich fest, dass ich "Humbolt" fälschlicherweise ohne "d" schrieb. Dann schenkte mir ein Freund eine wunderschöne, illustrierte Humboldt-Biografie. Ich fand heraus, dass der Forscher aus Berlin kam.

Es war spannend über seine beeindruckende Reise durch Südamerika zu lesen. Doch nicht nur das: Humboldt war auch in den Vereinigten Staaten gewesen, hatte Präsident Thomas Jefferson gesprochen und gab sein gesamtes Vermögen für die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse aus.

Der Autor, Timothy Rooks, und Hans Walter Lack vom Botanischen Garten Berlin
Timothy Rooks und H. Walter Lack vom Botanischen Garten Berlin diskutieren über die Pflanzen-Illustrationen von Alexander von HumboldtBild: T. Rooks

Nun war ich neugierig geworden. Ich las alle Humboldt-Bücher in der Bibliothek und stöberte im Internet nach Artikeln über ihn. Glücklicherweise war ich dafür genau am richtigen Ort. In Berlin gibt es unendlich viele Humboldt-Statuen und -Gemälde. In Vortragsreihen und Ausstellungen kam ich ihm weiter auf die Spur.

Sein Familienanwesen, Schloss Tegel, ist erhalten, und Humboldt selbst liegt dort an einem Ende des Gartens begraben. Heute leben die Nachfahren seines Bruders Wilhelms dort und ich hatte das große Privileg, eine private Führung zu bekommen. Aber neben Büchern und Statuen trug selbst der Besuch seines Familienanwesens und seines Grabsteins nur zu einer Illusion echter Nähe zu Humboldt bei.

Spurensuche in den Fußnoten

Woher kommt überhaupt meine Faszination? Humboldt war ein hart arbeitendes Wunderkind, aber er hatte auch schlicht und einfach ein gutes Timing und Glück, dass seine wissenschaftlichen Instrumente besser waren, als alles, was es zuvor gegeben hatte. Er war auch einer der letzten Europäer, der durch die spanischen Kolonien reiste, bevor eine Welle von Unabhängigkeitsbewegungen losbrach und sie für immer veränderte. Aufgrund seiner Schriften über und sein Interesse an Lateinamerika wird ihm häufig eine helfende Rolle bei diesen Unabhängigkeitsbewegungen zugeschrieben – er habe den Kolonien das Selbstvertrauen gegeben, sich mit Stolz zu erheben.

Für mich geht es nicht nur um Humboldt selbst, sondern um all die Türen, die sich durch meine Recherche über ihn geöffnet haben. Ein Teil des Humboldt-Puzzles führte häufig zu fremden Orten mit vielen neuer Personen, Ideen und mir noch unbekannten Geschichte.

Ich war begeistert, als ich eine Abschrift seines Passes von 1798 entdeckte. Darin ist Humboldt detailliert beschrieben: "Achtundzwanzig Jahre alt. Größe fünf Fuß, vier Zoll. Hellbraunes Haar, graue Augen, große Nase. Ziemlich großer Mund, wohlgeformtes Kinn, offene Stirn, von Pockennarben gezeichnet."

Diese Beschreibung gab mir eine bessere Vorstellung über den Mann, warf aber fast so viele Fragen auf, wie sie beantwortete. Das Schriftstück war von 1873 und der Pass wurde in Paris ausgestellt. Den Unterschied zwischen britischem und französischem Zoll zu recherchieren dauerte Stunden.

Nach meinen Berechnungen war Humboldt fünf Fuß, 6,8 Zoll [etwa 1,69 Meter, die deutsche Red.] groß. Er muss also relativ klein gewesen sein. Das Rätsel war also gelöst. Aber graue Augen? Ich erinnerte mich an zwei Gemälde von Humboldt, eines von 1784 und eines von 1804, in beiden hatte er sehr blaue Augen. 

Spurensuche im Spiegel

Biografien und populärwissenschaftliche Bücher stellen Humboldt so dar, wie es der Zeit entsprach. Es gibt den liberalen Humboldt, den deutschen Humboldt, den Befreier Lateinamerikas, den Gegner der Sklaverei, den schwulen Humboldt, den grünen Humboldt. Jeder will ihn sein Eigen nennen.

Auch ich will ihn mein Eigen nennen, und über die Jahre ist mein Interesse an ihm gewachsen. Je mehr ich lernte, desto mehr wollte ich wissen. Für mich war er ein Visionär mit einer Verbindung in die Vergangenheit, ein Mann, der viele faszinierende Leben beeinflusst hat.

Timothy Rooks vor der Humboldt-Gedenkstätte im Central Park von New York City
DW-Autor Timothy Rooks vor der Humboldt-Gedenkstätte im Central Park von New York CityBild: T. Rooks

Und trotzdem: egal, wie viele Bücher ich lesen und wie viele Gemälde ich studieren werde, ich werde Alexander von Humboldt nie wirklich kennen. Das ist schade, schließlich hat er mein Interesse an vielen Epochen und anderen historischen Persönlichkeiten geweckt. Er hat mich mit anderen Humboldt-Enthusiasten in Verbindung gebracht. Das hatte er ja schon immer getan. Humboldt war ein Meister im Kontakte knüpfen, er brachte Menschen zusammen.

Meine Suche nach Humboldt ist noch längst nicht beendet, aber einige Fragen sind inzwischen geklärt. Eine Konstante in Humboldts Leben war seine unerschütterliche Hingabe zu seinen Freunden und angehenden Forschern. Er half denen, die es nötig hatten, selbst wenn er selbst verschuldet und völlig überarbeitet war. Er schrieb schätzungsweise 30.000 Briefe an mindestens 2800 verschiedene Menschen.

Aber fast 90 Jahre alt zu werden, ist Segen und Leid zugleich. Trotz seines internationalen Ruhms gab Humboldt im Alter zu, einsam zu sein.

Was er am meisten bereute waren aber nicht Briefe, die er nicht geschrieben, oder Arbeiten, die er nicht vollendet hatte. Einen Tag vor seinem 75. Geburtstag schrieb er ohne Ironie: "Ich habe vieles gesehen, aber nach meinen Forderungen doch nur wenig." Nur ein Humboldt konnte solch eine Bilanz ziehen.