1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Erdogans Griff nach der digitalen Macht

Daniel Derya Bellut | Pelin Ünker
11. Juni 2020

Noch umgehen türkische Oppositionelle und Aktivisten mithilfe von sozialen Netzwerken die Medienzensur. Damit soll bald Schluss sein: Ein "Handbuch" verrät, wie die Regierung die digitale Deutungshoheit erobern möchte.

https://p.dw.com/p/3dRTO
Türkei l Youtube-Sperre
Bild: picture-alliance/dpa/K. J. Hildenbrand

Der türkische Präsidentenpalast hat einen "Ratgeber für die Nutzung von sozialen Medien" herausgeben. Das 161-seitige Handbuch soll den Weg für eine "korrekte, gesunde und sichere Nutzung" von Netzwerken wie Instagram, Twitter oder Facebook ebnen. Nach Angaben des Kommunikationsdirektors Fahrettin Altun, der sich im Vorwort äußert, seien Menschen zunehmend einer fortschreitenden Digitalisierung ausgesetzt. Damit die Vorteile dieser Entwicklung überwiegen, müssten Werkzeuge entwickelt werden.

Kritiker sehen in dem Ende Mai publizierten Ratgeber eher ein Werkzeug zur Medienzensur. Die Sorge geht um, dass die türkische Regierung ihren ohnehin großen Einfluss auf die Medien nun auch auf die sozialen Netzwerke ausweitet.

Grund für das Misstrauen sind solche Passagen: "Wir sind ein Land, das mit manipulativen Informationen, verbreitet von globalen Meinungsmachern, konfrontiert ist". Daher empfiehlt der Kommunikationschef des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, einen Prozess der Zentralisierung einzuleiten.

Ratgeber als Hebel für mehr Medienzensur?

Wie in den sozialen Netzwerken Informationen zukünftig kanalisiert werden sollen - dazu gibt es in dem Ratgeber konkrete Vorschläge: "In Krisenzeiten sollen offizielle Stellungsnahmen stärker wahrgenommen werden", heißt es. In den sozialen Netzwerken müssten zukünftig die Beiträge von offiziellen Behörden und Institutionen hervorgehoben werden.  

60. Jahrestag des Militärputsches in der Türkei 1960
Staatschef Recep Tayyip ErdoğanBild: picture-alliance/AA/O. Coban

"Sobald Ermittlungen auf Grundlage von kritischen Kommentaren, zum Beispiel zur Wirtschaftskrise, eingeleitet werden, oder Menschen aufgrund ihrer Beiträge in den sozialen Netzwerken inhaftiert werden, wird sich zeigen, was diese Passage zu bedeuten hat", warnt der Chefredakteur der oppositionellen Tageszeitung Evrensel Fatih Polat.

Auch für Faruk Bildirici - Ombudsmann beim Hohen Rat für Radio und Fernsehen (RTÜK) - gibt es Passagen, die bei ihm Misstrauen auslösen. In dem Ratgeber sei die Rede davon, dass soziale Medien als wirksame Waffe zur Zerstörung von spirituellen Werten der Nation eingesetzt würden. Daher wolle man zukünftig mehr Ethik und Moral in den sozialen Netzwerken fördern.

"Es ist vollkommen unklar, wie entschieden wird, was als ethischer Verstoß gilt und was nicht". Es ginge nicht darum, ethische Verstöße zu ahnden, sondern Kritik an politischen Verantwortungsträgern als ethischen Verstoß darzustellen, schlussfolgert Bildirici.

Offensive gegen Fakenews

In dem Ratgeber wird zudem davor gewarnt, dass sich in den sozialen Netzwerken "unvollständige, falsche oder erlogene Nachrichten" schnell verbreiten würden. "Die Feinde der Türkei, insbesondere terroristische Organisationen, zielen darauf ab, Lügen und Chaos zu stiften".

Als Beispiel für eine gezielte Verbreitung von Falschinformationen in sozialen Netzwerken werden die Gezi-Proteste herangezogen. Im Jahr 2013 war eine landesweite Protestwelle gegen ein geplantes Bauprojekt auf dem Gelände des Gezi-Parks in Istanbul losgebrochen. Die Proteste eskalierten, als die Polizei gewaltsam gegen die Demonstranten vorging.

Dem Ratgeber zufolge seien die tumultartigen Ereignisse mit "Massenmanipulationen" einhergegangen. "Die unkontrollierte Verbreitung von Nachrichten und Inhalten hat zu Informationsverschmutzungen geführt."

Soziale Medien: Letztes Sprachrohr der Opposition

Tatsächlich kommen Experten zu der Einschätzung, dass die Bevölkerung während der Proteste gezielt desinformiert wurden - von der Regierung: Trotz des Einsatzes von massiver Polizeigewalt fand sich davon nichts in den Medien wieder.

Gezi-Prozess wird fortgesetzt

Um der Zensur zu umgehen, schufen die Demonstranten über die sozialen Netzwerke Facebook und Twitter eine eigene Öffentlichkeit. Unter dem Hashtag #OccupyGezi twitterten über eine Millionen Menschen - oftmals wurden Fälle von Polizeigewalt dokumentiert.

Weil ein Großteil der türkischen Medien von der türkischen Regierung dominiert wird - Schätzungen belaufen sich auf ungefähr 95 Prozent  -  wichen Oppositionelle, Kritiker und Andersdenkende in den letzten Jahren vermehrt auf die sozialen Netzwerke aus.

Ein Strategie die sich bewährt hat: Der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu, der überraschenderweise den Wahlsieg bei den Kommunalwahlen 2019 verbuchen konnte, mobilisierte seine Wählerschaft fast ausschließlich über diese Netzwerke. Sein Wahlkampf-Hashtag "Her sey cok güzel olacak" - "Alles wird sehr gut" erlangte Kultstatus.

"Manipulationen werden von Staaten bewusst betrieben"

Nach Einschätzung des Evrensal-Chefredakteurs Fatih Polat sei der Ratgeber zur Nutzung von sozialen Medien ein Versuch der türkischen Regierung, nun auch Twitter und Co. unter Kontrolle zu bringen. "Der Ratgeber kann nur ernst genommen werden, wenn er unter Beteiligung von unabhängigen Wissenschaftlern und Sozialwissenschaftlern erstellt worden wäre", kritisiert Polat.

Gülin Cavus - Gründerin des türkischenFaktencheck-Netzwerks teyit.org - verweist darauf, dass Falschinformationen in sozialen Netzwerken eine immer größere Herausforderung darstellten. Doch dieses Problem gehe nicht - so wie es der Ratgeber aus dem Präsidentenpalast suggeriert - von individuellen Nutzern aus.

"Manipulationen werden auch von staatlichen Behörden bewusst betrieben. Dass sie sich dieser Methode bedienen, hat in den vergangenen drei Jahren stark zugenommen." Aus diesem Grund, so schlussfolgert Cavus, werde das Festlegen von Regeln und Richtlinien durch den Präsidentenpalast zu keinem guten Ergebnis führen.