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Türkische Firmen bereit für den Green Deal?

5. November 2021

Die Klima-Debatte ist auch unter Geschäftsleuten in der Türkei entbrannt. Um die künftigen EU-Standards für CO2-Emissionen zu erfüllen, gibt es aber weder Ressourcen noch ein klares Bekenntnis.

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Die Türkei soll auch den Kohleausstieg beschleunigen
Die Türkei soll auch den Kohleausstieg beschleunigen Bild: Umit Bektas/Reuters

Es hat über sechs Jahre gedauert, bis die Türkei das Pariser Klimaabkommen ratifiziert hat. Lange tat sich die Türkei auch schwer, beim Green Deal mit der Europäischen Union mitzumachen. Nun werden die Schritte beschleunigt, um eine regelrechte 'grüne Transformation' in der türkischen Wirtschaft voranzutreiben. Während jedoch große Konzerne bereits entsprechende Richtlinien umgesetzt und ihre Zeiträume bis zum Erreichen der Klimaneutralität angekündigt haben, wissen kleine und mittelständische Unternehmen immer noch nicht, was sie konkret machen sollen. Sie brauchen dringend eine Orientierung. Das ist insofern wichtig, da diese Unternehmen etwa 95 Prozent der türkischen Wirtschaft ausmachen.

Um eine wirksame Transformation in der Wirtschaft zu erreichen, benötigen die Unternehmen ausreichend Ressourcen. Und hier beginnt das Problem, denn die meisten beklagen einen gravierenden Mangel. Wenn die Türkei, die eine ihrer schlimmsten Phase in der Wirtschaft durchmacht, keine Ressourcen findet, könnten die Exporte nach Europa dramatisch einbrechen, warnen Experten. Das würde Milliardenverluste nach sich ziehen, denn mehr als die Hälfte der türkischen Güter und Dienstleistungen gehen dorthin. 

Steuerbelastungen von über vier Milliarden US-Dollar

Am 24. Juni 2021 verabschiedete das EU-Parlament das so genannte Green-Deal-Gesetz. Es verpflichtet die Mitgliedsländer der Europäischen Union, ihre CO2-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent reduzieren und bis 2050 sogar ganz CO2-neutral sein. Sollte dieses Ziel nicht erreicht werden, müssen sie für die CO2-Emissionen der Produkte und Dienstleistungen, die sie auf dem europäischen Markt verkaufen, eine zusätzliche Steuer zwischen 30 und 50 Euro pro Tonne zahlen.

Auch das würde die Exporte der Türkei in Richtung EU erheblich beeinflussen. Denn sollten die türkischen Exporteure die Einhaltung des Green Deal nicht gewährleisten, rechnen Experten mit einer zusätzlichen Steuerbelastung von vier Milliarden Dollar im Jahr.

Güven Sak
Der Direktor der Türkische Stiftung für Wirtschaftspolitikforschung Prof. Dr. Güven SakBild: Privat

"Die Türkei ist spät dran, kann aber noch Gas geben"

Das ist auch ein wesentlicher Grund, weshalb die Ergebnisse der Weltklimakonferenz im schottischen Glasgow auch für die Türkei von großer Bedeutung sind. Der Direktor und Gründer der Türkische Stiftung für Wirtschaftspolitikforschung (TEPAV), Prof. Dr. Güven Sak, sagt gegenüber der DW, dass die Türkei in der Tat etwas spät dran sei.

"Aber wir können noch Gas geben und die Ziele der Regierung für 2053 erreichen." Der Wissenschaftler weist darauf hin, dass sich die Türkei als NATO-Mitglied nicht aus dem Prozess der "grünen Transformation" heraushalten kann, der in den entwickelten westlichen Ländern fortgeführt wird. "Wir müssen uns an diese neue Ordnung anpassen, um unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und zu verbessern. Länder wie wir können solch intensive Transformationsprozesse nicht allein bewältigen. Deshalb müssen wir Seite an Seite mit den Entscheidungsländern stehen", ergänzt Sak.

"Die Wirtschaft kann einen ernsthaften Schock erleiden"

Güven Sak stellte zudem fest, dass, sollte die Türkei nicht auf den Green Deal vorbereitet sein, die türkische Wirtschaft einen noch schlimmeren Punkt erreichen könnte. "Wenn wir nicht auf diesen Wandel vorbereitet sind, wird unsere Wirtschaft einen ernsthaften Schock erleiden Dieser Schock wird durch die Qualität unserer Vorbereitungen bestimmt. Je besser wir vorbereitet sind, desto schwächer wird der Schock sein. Fast so, als wenn wir es gar nicht merken würden."

Sogar in der türkische Geschäftswelt wurde damit begonnen, sich auf diese neue Zeit vorzubereiten. Vor allem große Holdings erklären immer häufiger ihre Pläne zu ihren jeweiligen "grünen" Projekten. So hat beispielsweise die Koç Holding, das größte privatwirtschaftliche Unternehmen der Türkei und bei den Exporten nach Europa an erster Stelle, kürzlich angekündigt, dass sie sich verpflichtet, bis 2050 die CO2-Neutralität zu erreichen. Die Holding, zu der auch die türkischen Erdölraffinerien (TÜPRAŞ) gehören, wird dem Vernehmen nach bald ein umfassendes Programm für Klimaneutralität ankündigen. Die Zorlu Holding, zu der große Marken in Bereichen wie Weiße Ware, Textilien und Energie gehören und die einen großen Teil in die EU exportiert, will ihr Netto-Null-Kohlenstoff-Emissionsziel bis 2030 erreichen.

"Türkei braucht 80 Milliarden Euro"

Um die im Pariser Klimaabkommen festgelegten Ziele für saubere Energie zu erreichen, soll der Türkei im Rahmen eines von der Weltbank, Frankreich und Deutschland finanziell unterstützten Plans ein Darlehen in Höhe von 3,1 Milliarden Euro gewährt werden. Dieser Betrag wird allerdings vorne und hinten nicht reichen, um die Transformation in der türkischen Geschäftswelt den Vorgaben entsprechend sicherzustellen. Erst recht für die vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen, die nach Ansicht von Güven Sak vom Staat mit Förderprogrammen auf ihrem Weg zu Klimaneutralität unterstützt werden müssten. 

Der stellvertretender Minister für Umwelt und Urbanisierung, Mehmet Emin Birpınar, bezifferte die Kosten unlängst auf mindestens 1000 Euro pro Kopf, die ausgegeben werden müssten, um die EU-Standards im Kampf den Klimawandel zu erreichen. Demnach würde die Türkei rund 80 Milliarden Euro benötigen.

Adnan Aslan
Adnan Aslan, Vorsitzender des Verbands der StahlexporteureBild: Privat

Reaktion der Stahlexporteure

Die Eisen- und Stahlindustrie ist eine der Branchen, die direkt von den "Null-CO2-Emissionsstandards" betroffen sind. Mit der Umsetzung der entsprechenden Verordnung würden die Kosten für die Unternehmen, die in die EU exportieren, erheblich steigen, sagt Adnan Aslan, Vorsitzender des Verbands der Stahlexporteure (CIB).

"Diese Situation wird die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie ernsthaft beeinträchtigen. Wir fordern, dass unser Land nicht der Grenzkohlenstoffverordnung unterliegt. Gleichzeitig erwarten wir entsprechende Verhandlungen mit der Europäischen Union" so Aslan weiter.

Außerdem fordert der Verband, dass sich der CO2-Preisunterschied zwischen der EU und der Türkei nicht bei den Exporteuren niederschlägt. Denn nach dem Emissionshandelssystem, das im "Bericht zur Bekämpfung des Klimawandels" seitens des Ministeriums für Umwelt und Urbanisierung enthalten ist, soll der Sektor unangetastet bleiben.

Tahsin Öztiryaki
Tahsin Öztiryaki, Präsident des Istanbuler Verbands der Eisen- und Metallexporteure Bild: Privat

"Die EU sollte der Türkei mehr helfen"

Und auch Aluminium rückt ins Blickfeld. Der gefragte Rohstoff gehört zu den Top-Exportprodukten der Türkei und unterliegt ebenfalls der Grenzkohlenstoffverordnung. Auch Tahsin Öztiryaki, Präsident des Istanbuler Verbands der Eisen- und Metallexporteure (IDDMIB), macht auf das Ressourcenproblem bei der grünen Transformation seiner Branche aufmerksam.

"Während der Industrie in der EU im neuen Jahr mehr als 1,1 Billionen Euro für die 'Grüne Transformation' zur Verfügung gestellt werden, behandelt man die Türkei anders. Man muss der Türkei weitere Ressourcen anbieten, andernfalls erleben wir hier eine Wettbewerbsverzerrung. Die EU muss uns eine andere Quelle anbieten, damit wir die CO2-Emissionen reduzieren können", betont Öztiryaki weiter.