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Politik

Aktuell: Selenskyj wirbt vor US-Kongress für Flugverbotszone

16. März 2022

Angesichts der russischen Angriffe erinnert Präsident Selenskyj die US-Abgeordneten an Pearl Harbor und den 11. September 2001. Die NATO will dauerhaft mehr Soldaten an ihrer Ostflanke stationieren. Ein Überblick.

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Ukraine-Konflikt - Selenskyj im US-Kongress
Wolodymyr Selenskyj bei seiner Rede vor beiden Kammern des US-KongressesBild: Drew Angerer/Getty Images North America/AP/dpa/picture alliance

Selenskyj hält Rede vor US-Kongress

Das Wichtigste in Kürze:

  • Selenskyj spricht vor US-Kongressabgeordneten
  • Internationaler Gerichtshof fordert Russland zum Rückzug auf
  • Putin sagt, Russland habe keine andere Wahl als den "Sondereinsatz" gehabt
  • NATO will mehr Truppen im Osten stationieren
  • Lawrow nährt Hoffnung auf Kompromiss bei Gesprächen

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die USA erneut zur Einrichtung einer Flugverbotszone im ukrainischen Luftraum aufgerufen. Selenskyj war etwa 20 Minuten lang den Mitgliedern des US-Kongresses aus Kiew per Video zugeschaltet. Er erinnerte die Abgeordneten an den japanischen Luftangriff auf die US-Marinebasis Pearl Harbor 1941 sowie an die Terroranschläge vom 11. September 2001. "Unschuldige Menschen wurden aus der Luft angegriffen, niemand erwartete es, niemand konnte es stoppen", sagte Selenskyj. "Unser Land erlebt das Gleiche jeden Tag". Solchen "Terror" habe Europa seit 80 Jahren nicht mehr erlebt.

Das Weiße Haus hatte eine Flugverbotszone bislang vehement ausgeschlossen, da deren Durchsetzung einem direkten Kriegseintritt des NATO-Mitglieds USA gleichkäme. Selenskyj sagte, falls ein US-Einsatz für eine Flugverbotszone zu viel verlangt wäre, wolle er um Verteidigungssysteme zum Schutz vor den russischen Angriffen bitten. Der ukrainische Präsident forderte auch weitere Wirtschaftssanktionen; alle US-Firmen sollten Russland verlassen. "Wir brauchen Sie jetzt", wandte Selenskyj sich direkt an die zuhörenden Abgeordneten.

Trotz Verhandlungen: Krieg geht weiter

Nach dem Hauptteil von Selenskyjs Rede wurde ein mit trauriger Geigenmusik unterlegtes Video eingespielt, das Szenen des Leidens der ukrainischen Zivilbevölkerung infolge der russischen Angriffe zeigte. Zum Schluss richtete Selenskyj sich auf Englisch direkt an US-Präsident Joe Biden: "Der Anführer der Welt zu sein, bedeutet, der Anführer des Friedens zu sein." Eine Rede vor beiden Kammern des US-Kongresses zu halten, gilt als besondere Ehre. Infolge der russischen Annexion der Krim sowie des Kriegsbeginns in der Ostukraine 2014 wurde sie bereits Selenskyjs Amtsvorgänger Petro Poroschenko zuteil.

Wenige Stunden nach Selenskyjs Auftritt kündigte Biden weitere Militärhilfen für die Ukraine an, darunter Drohnen sowie Defensivsysteme gegen Panzer und Luftangriffe.

Internationaler Gerichtshof fordert Russland zum Rückzug auf

Das höchste Gericht der Vereinten Nationen hat Russland zu einem sofortigen Ende der militärischen Gewalt in der Ukraine aufgefordert. Damit gab der Internationale Gerichtshof in Den Haag einer Klage der Ukraine gegen Russland im Dringlichkeitsverfahren statt. Die Gewalt müsse sofort enden, sagte die Präsientin des Gerichtes, Joan Donoghue. Der Einsatz führe zu unzähligen Toten und Verletzten. Nach dieser vorläufigen Entscheidung muss erst noch ein Hauptverfahren für ein Grundsatzurteil geführt werden, das sich über Jahre hinziehen kann.

Russland entsandte keinen Vertreter zur Verlesung der Entscheidung im Friedenspalast. Das Urteil ist zwar bindend. Weil das Gericht jedoch keine Machtmittel hat, um seine Entscheidungen durchzusetzen, bezweifeln Beobachter jedoch, dass Russland infolge des Richterspruchs einlenkt. Allerdings kann die Entscheidung den Druck auf Moskau erhöhen.

Den Haag Friedenspalast Demonstration
Vor dem Den Haager Friedenspalast unterstützten diese Demonstrierenden in der vergangenen Woche die Klage der UkraineBild: Remko de Waal/ANP/picture alliance

NATO will Ostflanke dauerhaft stärken

Zur Abschreckung Russlands will die NATO dauerhaft mehr Truppen in den östlichen Mitgliedsländern stationieren. Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte nach dem Treffen der NATO-Verteidigungsminister in Brüssel, nötig seien "erheblich mehr Truppen im östlichen Teil der Allianz mit höherer Bereitschaft". Die Größenordnung für diese Stationierung ist nach Angaben der deutschen Verteidigungsministerin Christine Lambrecht noch offen. Die SPD-Politikerin warnte, auch wenn es bisher keine Anhaltspunkte für einen bevorstehenden russischen Angriff auf die NATO gebe, "so können wir das nicht gänzlich ausschließen, und wir müssen vorbereitet sein". Derzeit sind rund 40.000 Soldaten der NATO-Eingreiftruppe NRF in erhöhter Alarmbereitschaft.

Den polnischen Vorstoß für eine "Friedensmission" lehnte das Bündnis ab: "Die Verbündeten sind sich einig, dass die NATO keine Land- oder Luftstreitkräfte in die Ukraine entsenden sollte", sagte Stoltenberg.

Belgien l Treffen der NATO-Verteidigungsminister, Familienbild
Familienfoto in Kriegszeiten: Treffen der NATO-Verteidigungsminister in BrüsselBild: Johanna Geron/REUTERS

Putin: Wollen Ukraine nicht besetzen

Russland strebt nach den Worten seines Präsidenten Wladimir Putin keine Besetzung der Ukraine an. Sein Land habe keine andere Wahl gehabt als diesen "militärischen Sondereinsatz". Putin warf der Ukraine vor, sie hätte in absehbarer Zeit Atomwaffen haben können. "Die Ukraine hat mit Unterstützung westlicher Mächte eine Aggression gegen Russland geplant", sagte Putin, ohne Beweise dafür zu nennen. Der Einsatz der russischen Armee in der Ukraine laufe nach Plan.

Infolge der steigenden Energiekosten in Europa warf Putin dem Westen einen "wirtschaftlichen Blitzkrieg" vor. Dieser hätte in jedem Fall Sanktionen gegen Russland verhängt, zeigte sich Putin überzeugt: "Der Westen macht sich nicht einmal die Mühe zu verbergen, dass es sein Ziel ist, der gesamten russischen Wirtschaft und jedem einzelnen Russen zu schaden." Die Probleme des Westens würden nur wachsen, sagte Putin. Der ganze Planet zahle für die Ambitionen des Westens. In Russland hat sich die Teuerungsrate zum Stichtag 11. März laut Wirtschaftsministerium auf 12,5 Prozent erhöht - gegenüber 10,4 Prozent in der Vorwoche.

Zivile Opferzahlen steigen

Aus verschiedenen ukrainischen Orten werden neue Fälle von zivilem Beschuss gemeldet. Die ukrainische Seite warf Russland vor, einen Konvoi flüchtender Einwohner aus der belagerten Stadt Mariupol mit schwerer Artillerie beschossen zu haben. Dabei seien fünf Personen verletzt worden, darunter ein Kind, erklärte der Gouverneur der Region Saporischschja, Alexander Staruch. Ebenfalls in Mariupol sollen russische Bomben ein Theater getroffen haben, das der Zivilbevölkerung als Zufluchtsort diente. Angaben über Opfer wurden zunächst nicht gemacht. In Chernihiw sollen nach Angaben der US-Botschaft für die Ukraine 10 Menschen durch russischen Beschuss getötet worden sein, während sie in einer Warteschlange für Brot angestanden hätten. Russland stellte den Vorfall als "grausame Terrortat ukrainischer Nationalisten oder eine Inszenierung des ukrainischen Geheimdiensts" dar.

Nach Angaben der Vereinten Nationen sind seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine 726 zivile Todesopfer dokumentiert worden. Darunter seien 42 Kinder und Jugendliche, teilte das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte mit. Zudem lägen dem Büro Informationen über 1174 Verletzte vor. Hochkommissarin Michelle Bachelet betont stets, dass die tatsächlichen Zahlen mit Sicherheit deutlich höher liegen.

Nach vorläufigen Recherchen der Organisation "Reporter ohne Grenzen" sind zudem mindestens fünf Journalistinnen und Journalisten im Ukraine-Krieg getötet worden, darunter drei Ukrainer und zwei US-Amerikaner. Im Fall eines Bürgerjournalisten in Cherson sei nicht klar, ob er bei der Arbeit ums Leben gekommen sei.

Russland blockiert weitere Medien - auch BBC betroffen

Nach einer entsprechenden Anordnung der russischen Medienaufsichtsbehörde Roskomnadzor sind die Webseiten mehrerer unabhängiger Medien in Russland nicht mehr erreichbar, darunter auch die der britischen öffentlich-rechtlichen BBC. Einem Bericht der russischen Agentur Interfax zufolge sind ungefähr 30 Webseiten betroffen, darunter auch das Recherchenetzwerk Bellingcat sowie die russische Zeitung Novye Izvestia.

Zugleich blockierten die Medienaufsichten der EU-Staaten Estland und Lettland zahlreiche russischsprachige Angebote. In Lettland waren 71 Webseiten betroffen, deren Inhalt "eine direkte Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstelle, sagte Behördenchef Ivars Abolins. In den beiden baltischen Staaten machen Russen jeweils über 20 Prozent der Bevölkerung aus.

Polens Regierungspartei drängt auf aktivere Rolle der NATO

Polen hat eine "Friedensmission" der NATO zur Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland gefordert. "Ich glaube, wir brauchen eine Friedensmission der NATO oder möglicherweise einer breiteren internationalen Struktur", zitierte die Nachrichtenagentur PAP den polnischen Vize-Regierungschef Jaroslaw Kaczynski, der am Dienstag mit den Regierungschefs von Polen, Slowenien und Tschechien nach Kiew gereist war. 

Nach den Vorstellungen Kaczynskis sollte eine NATO-Mission mit "Zustimmung des ukrainischen Präsidenten" auf "ukrainischem Territorium agieren" und "humanitäre und friedliche Hilfe" leisten. Dabei solle sie allerdings "von Streitkräften geschützt" werden und "in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen", betonte der Vorsitzende der regierenden konservativen Partei in Polen.

Der polnische Vorschlag wurde beim NATO-Verteidigungsministertreffen in Brüssel abgelehnt. Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht sagte am Rande des Treffens, man müsse "mit kühlem Kopf darauf achten, dass dieser Krieg nicht zu einem Krieg der NATO wird". Der deutsche Regierungssprecher Steffen Hebestreit verwies auf bisherige "rote Linien" von Bundeskanzler Olaf Scholz: "Keinerlei NATO-Personal, keine NATO-Soldaten außerhalb der NATO oder in die Ukraine schicken."

Ukraine-Konflikt | Präsident Selenskyj trifft sich mit drei EU-Regierungschefs in Kiew
Vom ukrainischen Präsidialamt veröffentlichtes Foto des Treffens mit den EU-Regierungschefs in KiewBild: Ukrainian Presidential Press Office via AP/picture alliance

Der Besuch Kaczynskis gemeinsam mit den Ministerpräsidenten - Mateusz Morawiecki (Polen), Petr Fiala (Tschechien) und Janez Jansa (Slowenien) - und weiteren Gesprächsteilnehmern war der erste von ausländischen Regierungschefs in der belagerten ukrainischen Hauptstadt seit Beginn des russischen Angriffskriegs. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte zuvor immer wieder von der NATO die Einrichtung einer Flugverbotszone gefordert.

Regierungsvertreter sicher zurück in Heimatländern

Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki forderte die EU in Kiew erneut auf, "der Ukraine sehr schnell den Status eines Beitrittskandidaten zu verleihen". Er fügte hinzu: "Wir werden versuchen, Verteidigungswaffen zu organisieren".

Die Politiker aus Polen, Tschechien und Slowenien waren mit einem Zug in die Ukraine gereist. Der Besuch in Kiew war nach Darstellung eines polnischen Regierungssprechers unter strengster Geheimhaltung in Absprache mit EU und NATO geplant worden. Nach Auskunft des polnischen Regierungssprechers Piotr Muller sind die Delegationen wieder in ihren Heimatländern. "Die polnische, slowenische und die tschechische Delegation sind sicher aus Kiew nach Polen zurückgekehrt", schrieb Muller auf Twitter. Im Vorfeld der Visite hatte es Bedenken hinsichtlich der Sicherheit für die Politiker gegeben. 

NATO-Sondergipfel in der kommenden Woche

Die Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten werden in der kommenden Woche zu einem Sondergipfel zusammenkommen. Das Treffen soll am 24. März in der Bündniszentrale in Brüssel organisiert werden, wie NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg mitteilte. Für den gleichen und den folgenden Tag ist ein EU-Gipfel anberaumt. An beiden Treffen will auch US-Präsident Joe Biden teilnehmen, wie das Weiße Haus bestätigte.

Lawrow nährt Hoffnung auf Kompromiss bei Gesprächen

Russlands Außenminister Sergej Lawrow sieht Chancen auf einen Kompromiss bei den Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew. Die Gespräche seien aus offensichtlichen Gründen nicht einfach. "Dennoch besteht eine gewisse Hoffnung, einen Kompromiss zu erzielen", sagte Lawrow dem Sender der russischen Zeitung "RBK. Es gebe bereits konkrete Formulierungen, "die meiner Meinung nach kurz vor der Einigung stehen". Dabei geht es Lawrow zufolge darum, dass sich die Ukraine für neutral erklären soll. Dieses werde nun "ernsthaft diskutiert, natürlich in Verbindung mit Sicherheitsgarantien".

Der russische Außenminister Sergei Lawrow
Der russische Außenminister Lawrow: Konkrete Formulierungen, "die meiner Meinung nach kurz vor der Einigung stehen"Bild: REUTERS

An diesem Mittwoch wollten Vertreter beider Länder ihre Gespräche im Online-Format fortsetzen. Nach der Runde vom Dienstag hatte der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak von sehr schwierigen und zähen Verhandlungen gesprochen. Es gebe fundamentale Gegensätze, aber auch Raum für Kompromisse.

Auch der russische Verhandlungsführer Wladimir Medinski sagte der Agentur Interfax zufolge, die Gespräche gingen nur langsam voran. Russland strebe einen Generationenvertrag an: "Wir brauchen eine friedliche, freie, unabhängige Ukraine, neutral - kein Mitglied von Militärblöcken, kein Mitglied der NATO, (...) einen Nachbarn, mit dem wir gemeinsame Beziehungen entwickeln können." Diese Vereinbarung müsse über Generationen halten, "damit auch unsere Kinder in einer Welt leben, deren Fundament durch diesen vertraglichen Prozess gelegt wird". Medinski zitierte angebliche Kiewer Vorschläge, wonach die Ukraine wie Schweden militärisch neutral sein könnte, aber mit eigener Armee.

Kiew gegen Neutralität nach schwedischem Vorbild 

Selenskyjs Berater Podoljak wies eine Neutralität nach schwedischem oder österreichischem Modell allerdings zurück und forderte "absolute Sicherheitsgarantien". Es könne nur um ein "ukrainisches" Modell gehen, dessen Unterzeichner sich verpflichten, im Falle einer Aggression auf Seiten der Ukraine zu intervenieren.

Die Frage eines NATO-Beitritts der Ukraine ist einer der Gründe, den Russland für seinen Angriff auf das Nachbarland angeführt hat. Moskau sieht das westliche Militärbündnis als existenzielle Bedrohung an. Schweden und Österreich sind zwar keine NATO-Mitglieder, werden allgemein aber dennoch den westlichen Staaten zugerechnet. Insbesondere Schweden beteiligt sich auch regelmäßig an NATO-Militärübungen.

Ausgangssperre in Kiew in Kraft

Seit 20.00 Uhr Ortszeit am Dienstagabend bis Donnerstagmorgen um 06.00 Uhr dürfen die Bewohner Kiews ihre Häuser nicht mehr verlassen. "Es ist verboten, sich ohne Sondergenehmigung in der Stadt zu bewegen, es sei denn, man begibt sich in Luftschutzräume", sagte Bürgermeister Vitali Klitschko.

Ukraine Kiew | Vitali Klitschko beuscht Ruinen
Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko betont: "Die Hauptstadt wird verteidigt"Bild: Pavel Nemecek/CTK/picture alliance

Präsident Selenskyj ernannte zudem den bisherigen Befehlshaber in der Ostukraine, Olexander Pawljuk, zum neuen Leiter der Militäreinsätze in der Hauptstadtregion. Kiew wird seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar immer wieder beschossen. In der Stadt sollen sich nur noch rund die Hälfte der einst 3,5 Millionen Einwohner aufhalten. Am Dienstag hatten russische Streitkräfte nach ukrainischen Angaben mehrere Wohnblocks beschossen. Dabei sind nach jüngsten Angaben Selenskyjs mindestens fünf Menschen getötet worden. Bürgermeister Klitschko betonte: "Die Hauptstadt ist das Herz der Ukraine, und sie wird verteidigt werden." Kiew sei derzeit das Symbol und die vorgeschobene Operationsbasis der Freiheit und Sicherheit Europas und werde nicht aufgegeben.

Ukraine: Zerbombte Heimat

Abgeordnete im DW-Interview:  Kiew wird zu einer "Festung"

Die ukrainische Parlamentsabgeordnete Kira Rudik hält Kiew "bereit" für eine russische Belagerung, fürchtet aber Luftangriffe. Die ukrainische Hauptstadt werde zu einer "Festung", sagte Rudik in einem Interview der Deutschen Welle (DW). "Worauf wir aber nicht vorbereitet sind, ist der Beschuss und die Raketen, die aus der Luft kommen". Sie wiederholte in diesem Zusammenhang die Forderung der Führung in Kiew an die NATO-Staaten, eine Flugverbotszone über der Ukraine durchzusetzen oder dem Land Flugzeuge zur Verfügung zu stellen, um die russische Luftwaffe abzuwehren. Beide Forderungen werden bislang jedoch von der Allianz zurückgewiesen.

Ukraine Kiew | Brand in Wohngebäude nach Beschuss
Beschossenes Wohngebäude in KiewBild: State Emergency Service of Ukraine/REUTERS

Ukraine meldet weitere militärische Erfolge

Die ukrainischen Streitkräfte haben nach eigenen Angaben den russischen Truppen erneut schwere Verluste zugefügt. Nahe der südwestukrainischen Hafenstadt Odessa seien zwei Kampfflugzeuge vom Typ Suchoi Su-30 abgeschossen worden, teilte die ukrainische Luftwaffe mit. Nach Angaben des regionalen Militärstabs versuchten russische Einheiten, die ukrainische Luftabwehr bei Odessa auszuschalten, dies sei aber nicht gelungen. Vor der Küste kreuzen demnach mehrere russische Kriegsschiffe, von denen eins ebenfalls auf ukrainische Stellungen gefeuert haben soll.

Waffen-Training für Zivilisten in Odessa
Waffen-Training für Zivilisten in OdessaBild: Alexandros Avramidis/REUTERS

Der Generalstab in Kiew teilte mit, ukrainische Truppen leisteten landesweit heftigen Widerstand. Ukrainische Artillerie und Luftwaffe attackierten die russischen Nachschublinien. Die russischen Einheiten konzentrierten sich derzeit vor allem auf die Sicherung ihrer Geländegewinne.

Nach ukrainischen Angaben wurden seit Kriegsbeginn am 24. Februar etwa 13.800 russische Soldaten getötet. Etwa 430 Panzer, 1375 gepanzerte Fahrzeuge und Hunderte weitere Fahrzeuge seien zerstört worden, ebenso rund 85 Kampfflugzeuge und mehr als 100 Hubschrauber. Die Angaben können nicht unabhängig überprüft werden.

Auch Stadt Saporischschja Angriffsziel der Russen

Russische Truppen haben nach ukrainischen Angaben auch die im Süden des Landes gelegene Stadt Saporischschja angegriffen, in der sich neben den Einwohnern auch tausende Flüchtlinge aus dem belagerten Mariupol aufhalten. "Erstmals sind zivile Objekte in Saporischschja angegriffen worden", schrieb Gouverneur Alexander Staruch im Online-Dienst Telegram. Die Raketen seien unter anderem auf einem Bahnhofsgelände eingeschlagen, es sei niemand getötet worden.

Saporischschja war bisher von den Kämpfen weitgehend ausgenommen. Das von russischen Truppen bereits vor zwei Wochen eingenommene Atomkraftwerk Saporischschja liegt 50 Kilometer außerhalb. Die Stadt war bislang ein erster sichere Anlaufpunkt für Menschen, die aus der von russischen Truppen belagerten Hafenstadt Mariupol flüchteten. Von Saporischschja aus brechen die Menschen dann in den Westen der Ukraine sowie nach Polen oder andere Nachbarländer auf.

Ukraine Mariopol | Menschen suchen Schutz vor Angriffen in einem Gebäude
Menschen in Mariupol suchen Schutz vor AngriffenBild: Evgeniy Maloletka/AP/picture alliance

20.000 Menschen entkommen aus Mariupol

Aus der belagerten ukrainischen Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer ist offenbar rund 20.000 weiteren Zivilisten die Flucht gelungen. Insgesamt 4000 Privatautos hätten die Stadt am Dienstag verlassen können, schrieb der Vizechef des Präsidentenbüros, Kyrylo Tymoschenko, auf Telegram. Mariupol mit etwa 400.000 Einwohnern ist seit Tagen von russischen Einheiten umzingelt und vom Rest des Landes abgeschnitten. Immer wieder scheiterten Versuche eines Hilfskonvois, aus der westlich gelegenen Stadt Berdjansk Lebensmittel und Medikamente nach Mariupol zu bringen.

Melnyk: Schröders Vermittlungsversuch "schief gelaufen"

Der ukrainische Botschafter in Deutschland hat die Vermittlungsbemühungen von Altkanzler Gerhard Schröder im Ukraine-Krieg für gescheitert erklärt. "Die Sache ist für uns endgültig erledigt", sagte Botschafter Andrij Melnyk der Deutschen Presse-Agentur. "Es ist schon traurig zu beobachten, wie die ganze Sache schief gelaufen ist."

Auch die Männerfreundschaft zu Alt-Kanzler Schröder kann Kremlchef Putin nicht von seinem Kriegskurs abbringen
Auch die Männerfreundschaft zu Alt-Kanzler Schröder kann Kremlchef Putin nicht von seinem Kriegskurs abbringen Bild: Getty Images

Schröder war vergangene Woche Mittwoch von Istanbul aus nach Moskau gereist, wo er nach dpa-Informationen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin sprach. Schröder ist seit langem mit Putin befreundet. Der Altkanzler ist zudem für die Erdgas-Pipeline-Unternehmen Nord Stream 1 und 2 als Lobbyist tätig sowie Aufsichtsratschef beim russischen Ölkonzern Rosneft. 

Melnyk betonte erneut, dass die Initiative für die Vermittlungsaktion von Schröder ausgegangen sei. Am Sonntag dann sei ein ukrainischer Mittelsmann von Schröder persönlich über den Verlauf der Gespräche in Moskau informiert worden. "Die Ergebnisse waren aber absolut nutzlos."

"Der Krieg geht weiter, aber das Leben hört nicht auf"

Während des Kriegs wird in der Ukraine weiter geheiratet. Seit Beginn des russischen Angriffs vor fast drei Wochen hätten sich 10.683 Paare das Ja-Wort gegeben, teilte das Justizministerium in Kiew mit. "Der Krieg im Land geht weiter, aber das Leben hört nicht auf." Seit dem 24. Februar seien zudem 10.767 Kinder in dem Land geboren worden. "Unsere Arbeiter arbeiten auch unter Kriegsbedingungen weiter für Sie!", schrieb das Ministerium an die ukrainische Bevölkerung.

ehl/hf/sti/qu/kle/wa (rtr, dpa, afp, ap)

Dieser Artikel wird am Tag des Erscheinens fortlaufend aktualisiert.