1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Die Tour de France hofft auf Plan B

15. April 2020

Fußball-EM und Olympische Spiele gehen aufs nächste Jahr, die Tour de France verschiebt ihren Start nur um zwei Monate. Das Kalkül dahinter ist verständlich - doch das Vorgehen ist in mehrfacher Hinsicht riskant.

https://p.dw.com/p/3awMR
Frankreich Tour de France Alpe d'Huez | Bram Tankink 2015
Ein Spätsommermärchen oder ein virologischer Albtraum? Die Tour soll am 29. August starten Bild: picture alliance/Augenklick/Roth

Der Druck war gewaltig, doch die Beharrungskräfte beachtlich: Als letztes Großereignis des Sportsommers 2020 beugt sich nun auch die Tour de France der Corona-Pandemie. Die 107. Frankreich-Rundfahrt wird um rund zwei Monate verschoben und soll nun vom 29. August bis zum 20. September durch Frankreich rollen. Durch ein Land, das schwer von der Seuche gezeichnet ist. Es ist ein ambitionierter Plan, der einige Risiken birgt. 

Keine "Geistertour"

Denn aktuell kann niemand verlässlich sagen, ob Ende August wieder ein Sport-Großereignis mitten in Europa stattfinden kann. Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron hatte verkündet, dass wegen der Coronavirus-Pandemie "Veranstaltungen mit großem Publikum frühestens Mitte Juli abgehalten werden" könnten. Angesichts der Auswirkungen der Pandemie auf Frankreich darf man "frühestens" nicht mit "spätestens" verwechseln: Mehr als 130.000 Menschen sind hier nach Angaben der Johns-Hopkins-Universität infiziert, mehr als 15.000 bereits verstorben (Stand: 15. April).

Frankreichs Gesundheitssystem ist stark belastet, einige Patienten wurden sogar ins Ausland verlegt, da manche Kliniken am Limit arbeiten. Ob und wann sich die Situation entspannt, kann derzeit niemand genau sagen. Ein Radrennen durchs ganze Land mit 4500 Menschen im Tross und rund 12 Millionen Zuschauern, die dicht an dicht Spalier stehen, ist aus virologischer Sicht zu Pandemiezeiten ein Albtraum. 

Doch genau das plant die Tour. "Die Tour de France wird nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden", ließ Tourdirektor Christian Prudhomme bereits Anfang April keinen Zweifel. Eine "Geistertour" ohne Zuschauer ist für die Macher des größten Radrennen der Welt undenkbar - aus gutem Grund. Die Tour schließt mit den gastgebenden Städten und Regionen Verträge, die viel Geld einbringen. Ein Grand Départ mit den ersten Etappen kostet die Ausrichter gut fünf Millionen Euro, ein Etappenort je nach Größe der Stadt 200.000 Euro und mehr.

Dafür erwarten die Städte und Kommunen einen Gegenwert, und der besteht in der Regel neben den TV-Bildern und der Nennung der Stadt in den Medien vor allem aus einem kräftigen Schub für den lokalen Tourismus. Und die Sponsoren zahlen auch deshalb Geld an die Tour de France, weil die vorweg fahrende Werbekarawane viele Millionen Menschen an der Strecke erreicht. Die Tour muss also mit Zuschauern kommen. Aber geht das in diesem Jahr überhaupt?

Das Peloton hofft und zweifelt

Nikias Arndt ist sich da nicht sicher. Der deutsche Radprofi ist Roadcaptain im Sunweb-Rennstall, also so etwas wie der Teamkapitän im Fußball. Er hofft auf die Chance, sich und sein Team in Frankreich präsentieren zu können, doch in seine Aussagen mischen sich auch nachdenkliche Töne. "Aktuell ist das für mich noch ganz weit weg. Ich kann es mir noch schwer vorstellen, dass eine Massenveransstaltung wie die Tour de France stattfinden kann. Hier in Deutschland hat man die Situation aktuell halbwegs gut im Griff, aber weltweit ist es extrem unterschiedlich", so der Allrounder im DW-Gespräch mit Blick auf weltweite Corona-Pandemie. "Der Radsport ist global, unser Team ist aktuell verteilt auf drei Kontinente. Das wird nicht einfach. Aber wir bereiten uns nun hundertprozentig auf den Ersatztermin vor."

Radsport Ralph Denk
Die Tour spielt für für Ralph Denk die zentrale Rolle im Geschäftsmodell RadsportBild: picture-alliance/dpa/M. Balk

Der neue Termin verschafft eine scheinbare Planungssicherheit. Statt der Ungewissheit, wann und ob wieder Radrennen ausgetragen werden können, hat die Branche wieder ein Zieldatum: den Tourstart am 29. August. Davor gibt es noch nationale Meisterschaften, danach noch Giro, Vuelta, Klassiker und die WM. So zumindest die Planspiele des Weltradsportverbandes UCI. Doch all das ist mehr oder weniger Beiwerk, die Tour de France ist der Dreh- und Angelpunkt.

150 Millionen Euro wird mit der Tour jährlich umgesetzt und für viele Teams ist sie das Kerngeschäft: Für die deutsche Mannschaft Bora-Hansgrohe macht die Tour 70 Prozent ihres jährlichen Werbewerts aus, rechnet Teamchef Ralph Denk im DW-Interview vor. "Das ist das höchste Gut für uns", so der 46-jährige Manager, der im Kontrast zum Tour-Chef klarstellt: "Anders als im Fußball leben wir nicht von den Zuschauern am Streckenrand. Lieber eine Tour de France ohne Zuschauer als keine Tour de France."

Sein Schützling Maximilian Schachmann teilt diese Ansicht. Denks Position verdeutlicht auch: Ein kompletter Ausfall der Tour wäre ein GAU für den Radsport. Das Geschäft für dieses Jahr irgendwie noch zu retten, ist das Kalkül von Verband, Veranstalter und Teams.

Scheinbare Einigkeit

"Wir brauchen die Tour, unbedingt", sagt Denks Kollege Marc Madiot der DW. Er leitet seit fast 25 Jahren den französischen Groupama-FDJ-Rennstall und hat mit Thibaut Pinot den langersehnten nächsten französischen Tour-Sieganwärter in seinen Reihen. "Viele Teams und Fahrer wären in großen Schwierigkeiten, sollte die Tour am Ende nicht stattfinden. Wir Teams haben keine Einnahmen aus TV-Rechten. Wir leben von den Sponsoren, sie sind unsere Lebensader", sagt Madiot, der früher selbst Radprofi war. 

Radsport Thibaut Pinot
Große Emotionen auf großer Bühne: Marc Madiot (im Auto) hofft mit Thibaut Pinot (Mitte) auf den Tour-SiegBild: picture-alliance/Augenklick/Roth

Die Veranstalter der Tour betonen die Einigkeit der Szene. "In den vergangenen Wochen gab es eine ständige Kommunikation zwischen Fahrern, Teams, den Organisatoren und anderen relevanten Dritten. All dies geschah mit der Unterstützung des Weltverbandes UCI, der für die Organisation eines neuen globalen Rad-Kalenders verantwortlich ist, in dem die Tour einen Ehrenplatz einnimmt", hieß es in einer Mitteilung der ASO. Tatsächlich berichten Insider von einem Tauziehen der Veranstalter um Termine und offene Lücken im engen Rennkalender, der nun offiziell erst im August startet. 

Ursprünglich hätte das wichtigste Rennen der Welt am 27. Juni in Nizza beginnen sollen. Bereits am Dienstag war klar, dass dieser Termin nicht mehr zu halten war. Dass auch der neue, im Vergleich zu anderen Sportevents wie Olympia oder der Fußball-EM (beide erst 2021) sehr ambitionierte Zeitplan kippen könnte, ist das Risiko, das man eingeht. Die Vorbereitungen auf das verschobene Großereignis kosten viele Parteien Geld, das im schlimmsten Fall auch versenkt sein könnte. 

Abstand? "Unmöglich"

Radsport Nikias Arndt
"Abstand im Rennen ist unmöglich", sagt Radprofi Nikias Arndt (r.), der bereits bei Giro und Vuelta Etappensieger warBild: picture-alliance/Augenklick/Roth

Für die Profis beginnt nun die Vorbereitung auf die Tour - und das unter höchst unterschiedlichen Voraussetzungen. Manche Länder wie die Niederlande oder Deutschland erlauben weiter das Training auf den Straßen, wenngleich nicht mehr als Gruppe. In Spanien, Italien oder Frankreich müssen die Athleten zuhause auf dem Hometrainer an ihrer Fitness arbeiten.

Dazu kommen Reisebeschränkungen: Viele Profis gehen vor der Tour normalerweise ins Höhentrainingslager, was in diesem Jahr kompliziert werden dürfte. Und dann ist da noch die Sorge vor einem erneuten Ausbruch. Im Februar saß das Peloton der UAE Tour in den Emiraten fest, wurde wegen Corona-Verdachtsfällen vor Ort unter Quarantäne gestellt. Prägende Erfahrungen für manchen Profi, denn einige waren mehr als zwei Wochen lang im Hotel eingesperrt.

Der Neustart des Renngeschehens sollte wohl überlegt sein, denn eins ist klar: Wirkungsvolle Schutzmaßnahmen gegen das Virus sind im Rennbetrieb nicht einzuhalten. "Abstand im Rennen zu halten, ist unmöglich. Niemand würde das tun", ist Nikias Arndt überzeugt. "Da geht es um jedes Watt Leistung und man nutzt den Windschatten. Sich da zu schützen, ist ganz schwierig. Wenn es dann erneute Infektionen geben sollte, könnte das ganz schnell das Aus bedeuten."