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Wenig Hoffnung bei afghanischen Sportlerinnen

Kalika Mehta
14. August 2022

Ein Jahr nach dem Fall von Kabul haben afghanische Sportlerinnen kaum Chancen ihre Karriere fortzusetzen. Gegenüber der DW berichten sie über Sport in ihrer Heimat, ihre Flucht und ihr Leben zwischen Sorge und Hoffnung.

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Eine junge Frau aus Afghanistan hält bei ihrer Ankunft in den USA im August 2021, nach ihrer Flucht aus Kabul, einen Fußball in der Hand.
Schwierige Situation für afghanische Sportlerinnen: Nach der Machtübernahme der Taliban gibt es wenig HoffnungBild: Kevin Lamarque/REUTERS

"Ich wusste, wenn ich bleibe, würden die Taliban mich finden, mich schlagen und bei lebendigem Leibe verbrennen. Also dachte ich, wenn ich von einer Kugel getötet oder am Flughafen erdrückt würde, während ich darauf wartete, aus dem Land zu fliehen, wäre es ein einfacherer Tod", erinnert sich die junge Afghanin Nilofar gegenüber der DW an die dramatischen Tage vor einem Jahr.

Im August 2021 stand sie mit mehr als 10.000 Menschen vor dem Flughafen, wartete und schickte Gebete gen Himmel, dass sie es doch irgendwie durch eines der drei Tore auf das Flughafengelände schaffen möge. Heute ist Nilofar bewusst: Sie ist nur eine von vielen, die diese traumatische Erfahrung machen mussten.

Traumatisierende Flucht

Es war der Morgen nach der Hochzeit der ehemaligen Fußballerin, als die Taliban in die afghanische Hauptstadt einmarschierten und die Islamische Republik Afghanistan unter Präsident Ashraf Ghani stürzten. Seither ist das Land wieder vollständig unter der Kontrolle der radikalislamischen Taliban. 

Elf Monate später erinnert sich Nilofar, die aus Furcht vor Repressalien ihren vollständigen Namen lieber geheim halten möchte, mit erschreckender Genauigkeit an die Tage, die sie ohne Schlaf verbracht hat, als sie die Schreie von Müttern um sich herum hörte, die nichts tun konnten, als zuzusehen, wie ihre Kinder in der Masse der Menschen erstickten, die verzweifelt versuchten, einen der wenigen Flüge außer Landes zu bekommen. Ihr einziges "Verbrechen" war es, die Kühnheit zu haben, Sport zu treiben und andere Mädchen dazu zu ermutigen, dies auch zu tun. Aber es brachte die Taliban dazu, sie zu jagen.

"Taliban akzeptieren Frauen nicht als Menschen" 

"Jeder sollte Sport treiben können", betont Nilofar gegenüber der DW, "es ist ein Menschenrecht, aber die Taliban akzeptieren Frauen nicht als Menschen. Sie lassen die Mädchen glauben, dass Sport ein Verbrechen für Frauen ist, weil die Philosophie der Taliban ist, dass Frauen für das Haus und nichts anderes gemacht sind."

Nilofar gelangte schließlich mit Hilfe eines US-amerikanischen Soldaten in den Flughafenbereich, weigerte sich jedoch zu gehen, um zu erreichen, dass 16 Spielerinnen der von ihr trainierten örtlichen Fußballmannschaft, die sich immer noch auf der anderen Seite des Tors befanden, es auch bis zu einem Flugzeug schaffen würden. Am Ende konnte sie nur acht andere Mädchen mitnehmen. Tage nach der Ankunft in Doha, Katar, erfuhr sie, dass der amerikanische Soldat, der ihnen geholfen hatte, bei dem Selbstmordattentat auf den Flughafen am 26. August 2021 getötet worden war.

Tumult und Lebensgefahr: eine große Menschenmenge drängelt sich vor der durch Soldaten und mit Stachedraht gesicherten Außenmauer des Flughafens in Kabul im August 2021
Tumult und Lebensgefahr: Szenen vor dem Flughafen von Kabul im August 2021Bild: Wali Sabawoon/AP Photo/picture alliance

Nilofar war eine der Glücklichen, die es ins Ausland und damit in Sicherheit geschafft hatten. Die Psyche der Entkommenen jedoch leidet bis heute unter den Geschehnissen jener Tage in Kabul. Junge afghanische Sportlerinnen, die über den ganzen Globus verstreut sind, haben immer noch Angst. Es fällt ihnen schwer auch nur daran zu denken, wieder Sport zu treiben. Sie sind in ständiger Sorge um ihre Familien, die in Afghanistan weiterhin bedroht sind, weil ihre Töchter in den letzten 20 Jahren an einer sportlichen Aktivität teilgenommen haben.

"Es ist hart, wenn ich den Fernseher einschalte und die Sportkanäle oder ein Fußballspiel sehe", erklärt Nilofar, "ich denke zurück an die Mädchen, mit denen ich gearbeitet habe, die ich zum Sport ermutigt habe, deren Aktivitäten ich mit Geräten unterstützt habe. Ich denke an die Tage zurück, als wir hart daran gearbeitet haben, Frauen zu überzeugen, sich für ihre Rechte einzusetzen. Jetzt hassen sich die Mädchen dafür, Teil einer Fußballmannschaft gewesen zu sein. Sie geben sich selbst die Schuld für das Elend, unter dem ihre Familien jetzt leiden."

Sportlerinnen werden bedroht 

Die Volleyball-Nationalspielerin Muzhgan Sadat zeichnet ein fast identisches Bild. Ohne Möglichkeit, ihrer Leidenschaft für den Sport nachzugehen und in ständiger Unsicherheit und Sorge um ihre Teamkolleginnen, die immer noch in Afghanistan gefangen sind, verharrt ihr Leben in der Schwebe.

Sadat war bereits 2019 aus ihrem Heimatland geflohen. Aufgrund ihrer Rolle als Kapitänin der Volleyball-Nationalmannschaft war sie von den Taliban offen bedroht worden. Als sie die Ereignisse in Kabul im vergangenen August verfolgt, war ihr klar: Jahre des Fortschritts sind quasi über Nacht verloren. "Alles, worum wir uns 20 Jahre lang bemüht haben und was wir geschafft haben, nämlich unser Team aufzubauen, ist dahin", erzählt sie im Gespräch mit der DW. Man habe so hart dafür gearbeitet, Mädchen und Frauen für Sport zu begeistern . "Dann wachst du eines Tages plötzlich auf und alles ist weg. Es ist wie ein böser Traum."

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Jugendliche spielen Volleyball in Afghanistan: Mädchen wurden dafür von den Taliban bedrohtBild: Ali Khara/REUTERS

Sadat erinnert sich, wie 2017 Sportlerinnen im ganzen Land von den Taliban schriftlich ermahnt wurden, alle sportlichen Aktivitäten einzustellen oder ernsthafte Konsequenzen zu tragen. Trotz der Drohungen stellten Sadat und ihre Teamkolleginnen ihren Wunsch, Sport zu treiben, über ihre eigene Sicherheit. "Afghanistan ist ein Land, in dem man als Frau davon ausgehen kann, dass es von überall Angriffe geben wird", erklärt Sadat, "wenn Sie irgendwelche Aktivitäten ausführen, können Sie nicht sagen, dass Sie sicher sind."

"Alle die zum Training gingen, egal ob zur Nationalmannschaft oder zu kleinen Vereinen, nahmen das Risiko in Kauf. Wir wussten, dass uns etwas passieren kann - vielleicht würden die Terroristen oder andere uns angreifen oder töten." Inzwischen ist die Situation für Sportlerinnen, die sich in Kabul versteckt halten, noch weitaus düsterer geworden. Viele sind in ihren Häusern gefangen, nach draußen zu gehen, ist zu gefährlich.  Sadat und Nilofar arbeiten neben vielen gemeinnützigen Organisationen weiterhin daran, Fluchtwege für diejenigen zu finden, die sich noch in Afghanistan aufhalten. Doch über offizielle Kanäle geht es nur sehr zäh voran, eine Flucht auf eigene Faust in Nachbarländer wie Pakistan ist riskant.

Zwischen Sorge und neuem Lebensabschnitt

Trotz der Tragödie, die hinter ihnen liegt, bemühen sich Nilofar und einige ihrer Teamkolleginnen aus Afghanistan, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Momente des Glücks gehören dazu. "Ich war sehr gespannt darauf, Fahrradfahren zu lernen", erzählt Nilofar, "das klingt kindisch, weil Kinder mit drei oder vier Jahren Fahrradfahren lernen. Aber als Frau in Afghanistan durfte man nicht mit dem Fahrrad durch die Stadt fahren, auch als die Taliban nicht das Sagen hatten. Inzwischen habe ich es zusammen mit einigen anderen Mädchen gelernt. Es war eine großartige Erfahrung und ich wünschte, alle Mädchen hätten diese Möglichkeit."

Auch Sadat hofft und träumt weiterhin von einem Tag, an dem sie und ihre Volleyball-Teamkolleginnen wieder zusammen sein und gemeinsam den Sport treiben können, den sie lieben: "Wir haben unsere Hoffnung nicht aufgegeben, dass eines Tages alle Afghanistan verlassen und wieder in Frieden spielen können", sagt sie. "Niemand unterbricht sie, niemand stoppt ihre Aktivitäten oder hindert sie daran, ihre Träume zu verwirklichen."

Dieser Text wurde aus dem Englischen adaptiert von Jens Krepela.