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Politik

Deutsche Senioren und das Coronavirus

Grzegorz Szymanowski
13. März 2020

Für Menschen über 60 ist eine Corona-Infektion besonders gefährlich. Dennoch reagieren Senioren in Deutschland noch erstaunlich gelassen - auch wenn sich viele der wachsenden Gefahr bewusst sind.

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Offene Bühne von und für Senioren in Bonn
Werner Reuter (rechts) begrüßt bei einem Seniorentreffen eine Teilnehmerin mit dem "Corona-Gruß"Bild: DW/L. Hänel

Werner Reuter ist hin- und hergerissen. Für den Abend hat er eine Veranstaltung für Senioren geplant: Mehrere Künstler und etliche Gäste, zusammen in einem Raum. "Ich habe mir lange überlegt, ob ich diese Verantwortung übernehmen kann”, sagt Reuter. Auf der einen Seite habe er die "Offene Bühne von und für Senioren" schon lange vorbereitet, die Künstler eingeladen und den Raum in der Bonner Altstadt gebucht. Auf der anderen Seite weiß er aber, dass die Verbreitung des Coronavirus eine besondere Gefahr für seine Gäste darstellt. Denn alle sind über 60 Jahre alt.

Werner ist Kunstpädagoge und mit seinen 72 Jahren gehört er selbst zur Risikogruppe, bei der die Infektion mit dem Coronavirus einen besonders gefährlichen Verlauf haben kann. Da aber Veranstaltungen unter 1000 Besuchern von deutschen Behörden nicht untersagt wurden, entschied sich Reuter letztlich doch dafür, seine "Offene Bühne” am Mittwoch, 11. März, in einem Seniorentreffpunkt in Bonn durchzuführen.

Um das Infektionsrisiko zu minimieren, liegen Listen auf den Tischen bereit. Die Gäste der Veranstaltung sollen sich darauf eintragen. "Wenn sich jemand infizieren sollte, kann ich zumindest alle anderen schnell informieren”, sagt Reuter. So kann er die Infektionskette nachvollziehen. Seine Frau gibt ihm zusätzlich noch weitere Sicherheitshinweise mit auf den Weg: keine Umarmungen, Distanz halten!

Offene Bühne von und für Senioren in Bonn
Auf einer Liste sollen sich alle Besucher des Abends eintragen, um im Falle einer Corona-Infektion den Überblick zu behaltenBild: DW/L. Hänel

Angst vor Einsamkeit

Nur einmal versäumt es Reuter, auf den Rat seiner Frau zu hören, als er einen alten Freund in einer herzlichen Umarmung umschließt. Ansonsten versucht er tatsächlich Distanz zu halten und begrüßt einige Gäste lächelnd mit dem "Corona-Gruß”, also mit seinen Ellenbogen.

Die Menschen, die an diesem Abend langsam den Veranstaltungsraum füllen, sind sich im Prinzip ihrer Anfälligkeit für das Coronavirus bewusst, und trotzdem wollten sie nicht zu Hause bleiben. "Meine Tochter hat angedeutet, dass ich nicht herkommen soll, aber ich wollte meinen Auftritt nicht absagen”, sagt die 72-jährige Marion, die eigene Gedichte schreibt und diese vorlesen wird. Marion leidet an einer bronchialen Vorerkrankung. Auch Lothar Heinrich wollte an diesem Abend unter Menschen sein. "Ich wurde vor Kurzem operiert und musste lange zu Hause bleiben. Ich will das ungern wiederholen”. Und dann fügt er noch mit einem trotzigen Grinsen hinzu: "Irgendwann muss ich ja sowieso sterben”.

Offene Bühne von und für Senioren in Bonn
Marion liest an diesem Abend aus ihren Gedichten vorBild: DW/L. Hänel

Werner Reuter kennt die Probleme seiner Gäste: "Gerade für ältere Menschen wird das zum Problem, wenn sie sich nicht mehr mit anderen treffen können”. Doch auch er stellt fest: Es sind deutlich weniger Gäste als sonst da, etwa 18 Leute. Normalerweise kommen bis zu 70 Menschen. "Gut, dass ich weniger Stühle vorbereitet habe”, sagt er.

Deutschlands alte Bevölkerung

Seit Mittwoch hat sich die Zahl der Lage weiter verschärft. Es ist deshalb davon auszugehen, dass viele Senioren mittlerweile weniger unbefangen mit dem Thema umgehen. Und das zu recht. Denn die Analyse der betroffenen Fälle zeigt, dass das Virus mit zunehmendem Alter immer gefährlicher wird. Das Nachrichtenportal Vox wertete die Sterblichkeitsrate der Coronafälle in der besonders betroffenen Provinz Hubei in China zwischen Januar und Februar aus. Bis zu einem Alter von 60 Jahren lag die Sterblichkeitsrate bei unter zwei Prozent, zwischen 60 und 69 Jahren schon bei 4,6 Prozent, zwischen 70 und 79 Jahren bei 9,8 Prozent und bei den über 80-Jährigen sogar bei 18 Prozent.

Symbolbild - Altenpflege - Pflege - Pflegeberuf - Altersarmut
Deutschland hat eine der ältesten Bevölkerungen weltweitBild: picture-alliance/dpa/A. Weigel

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt der Berliner Virologe Christian Drosten. Er geht von einer Sterblichkeit bei über 80-Jährigen zwischen 20 und 25 Prozent aus. Die ersten Todesfälle in Deutschland weisen ebenfalls auf das erhöhte Risiko für ältere Menschen hin. In Nordrhein-Westfalen (NRW) starben eine 89-Jährige Frau und drei weitere über 70-Jährige Personen. NRW ist ohnehin von allen Bundesländern am stärksten betroffen: hier gab es am Freitagmittag über 1400 bestätigte Fälle, über 20 davon in Bonn, wo Reuters "Offene Bühne" stattfindet.

Deutschland ist auch angesichts dieser Risikogruppe der älteren Menschen alarmiert, da die Nation insgesamt eine besonders alte Bevölkerung hat. In der Europäischen Union sind die Menschen nur in Italien im Durchschnitt noch älter als in Deutschland. Fast 18 Millionen sind hierzulande älter als 65.

Der Umgang der Altenheime

Das ist ein Grund dafür, dass man in Deutschland mit besonderer Sorge auf Seniorenheime schaut, wo man Schreckensszenarien wie jenes in Brüssel vermeiden möchte: Dort steckten sich in einem Altersheim 34 Menschen mit dem Coronavirus an.

Im deutschen föderalen System entscheiden vorrangig die einzelnen Bundesländer, welche Corona-Schutzmaßnahmen sie einführen. Am Freitagmittag entschied die Regierung Bayerns, den Besuch von Alten- und Pflegeheimen für die Angehörigen zu begrenzen. Zu diesem Zeitpunkt war Bayern das einzige Bundesland mit einer solch drastischen Maßnahme.

Deutschland | Bayern beschliesst Besuchsverbot in Altenheimen
Gerade für alte Menschen ist es schwer, keinen Besuch zu empfangenBild: picture-alliance/dpa/SvenSimon

Aber auch in Bonn wappnneten sich Altersheime gegen die Infektionswelle. "Wir schränken den Zugang von Fremdfirmen, zum Beispiel von Handwerkern, ein. Wir appellieren auch an Angehörige zu überlegen, ob der Besuch gerade wirklich notwendig ist” sagt Marcel Zielinski, Leiter der privaten Einrichtung CMS Pflegestift Domhof.

Auch Veranstaltungen werden nach und nach abgesagt. "Wir setzen eher auf Einzelangebote als Gruppenangebote, um der Einsamkeit vorzubeugen”. Das Thema beschäftigt die Bewohner, "aber es gerät noch keiner in Panik”, fügt Zielinski hinzu.

Auch im städtischen Seniorenheim Haus Elisabeth wurden Besuche bis dahin nicht begrenzt. Man tat sich schwer mit dieser Entscheidung, denn "für die Bewohner ist es natürlich auch wichtig, dass sie ihre Angehörige sehen können”, erklärt der Leiter Michael Claßen. Alle Angehörige seien informiert worden, man solle die Einrichtung nur ohne Anzeichen von Erkältung besuchen. Zusätzlich werde noch stärker als sonst auf Desinfektionsmittel hingewiesen. Ansonsten höre man auf weitere Empfehlungen des Bonnes Gesundheitsamtes. Inzwischen dürfen Alten- und Pflegeheime sowie Krankenhäuser auch in NRW grundsätzlich nicht mehr besucht werden.

Resolut gegen Corona

Viele Senioren achten zudem verstärkt auf Hygienemaßnahmen. Werner Reuter muss lachen, als er feststellt, wie oft er die Hände wäscht: "Ich komme nach Hause, wasche mir direkt die Hände und stelle fest, ich muss noch die Schuhe ausziehen. Also mache ich das und dann wasche ich mir die Hände noch mal”. Auch diejenigen, die viel Kontakt zu Senioren haben, bemerken Veränderungen in ihrem Verhalten. "Früher sind die Älteren zusammen mit uns einkaufen gegangen, jetzt geben sie uns oft lieber den Einkaufszettel und bleiben selbst zu Hause”, berichtet eine Mitarbeiterin eines Pflegedienstes aus Bonn.

Beim Thema Einkaufen werden viele auch im hohen Alter kreativ. Um Kontakt mit Menschen im Supermarkt zu vermeiden, fuhr Elka, eine 83-jährige Seniorin aus Köln, diese Woche mit dem Fahrrad zum Marktplatz, nur um festzustellen, dass viele Verkäufer gar nicht aufgetaucht sind. Nun geht sie doch in den Supermarkt, aber außerhalb von Stoßzeiten. Außerdem könnte man Familie oder Nachbarn bitten, einkaufen zu gehen. Bei einigen Supermärkten kann man Produkte auch online bestellen: "Es gibt so viele Möglichkeiten”.

Doch bei weitem nicht alle werden so resolut durch die Infektionszeit gehen können. Experten raten deshalb, ältere Nachbarn nicht aus dem Blick zu verlieren, beim Einkauf zu helfen, oder einfach im Kontakt zu bleiben, sei es persönlich, per Telefon, oder mit Hilfe persönlicher Zettel im Treppenhaus. Kontakt erhalten ist gerade deswegen wichtig, weil man noch nicht weiß, wie lange die Infektionskrise andauern wird.

Gelassen aber vorsichtig

In Deutschland gingen ältere Menschen bisher mit der Diskussion um Corona insgesamt "relativ entspannt um", sagt die Alterswissenschaftlerin der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin, Claudia Schacke der Katholischen Nachrichten-Agentur. Der Grund dafür: Sie seien lebenserfahren und hätten schon andere Krisen mitgemacht.

Das sieht man auch bei der “Offenen Bühne” in Bonn. Während der Veranstaltung tritt Werner Reuter vor das Publikum und liest aus einem rätselhaften Brief vor. Darin heißt es: “Lieber Mensch (...) Ich bin so rasend schnell. So umfassend. Möchte den ganzen Erdball umarmen” und weiter: “Mache dich ratlos - oh Mensch. Bringe Deine Welt zum Zittern. (...) Deine Corona”. Gäste lachen, klatschen. Reuter sagt: “Meine Frau meinte, ich soll etwas zu diesem traurigen Thema schreiben”.

Offene Bühne von und für Senioren in Bonn
Werner Reuter versucht, die Zuversicht nicht zu verlierenBild: DW/L. Hänel

Doch auch er muss nach diesem Abend zu seinem Bedauern feststellen: es mache gerade wenig Sinn, sagt er, Veranstaltungen für Senioren zu organisieren. Aus gesundheitlichen Gründen und auch weil nur so wenige kommen. Auf seine Initiative wurde ein anderes Event im Bonner Seniorentreff nun verschoben, erstmal auf unbestimmte Zeit. Man hört es ihm an, er findet das schade, nicht mit Kunst Menschen zusammen zu bringen. Er habe aber eine andere Idee, fügt Werner Reuter schnell hinzu, und seine Stimme wird wieder lebendig und leidenschaftlich: "Wenn das alles vorbei ist, dann muss man sagen: lasst uns ein sehr großes Fest feiern und noch stärker als jemals zuvor Kontakte zu Anderen pflegen".

Mitarbeit: Lisa Hänel