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Politik

Nigerianische Mafia auf dem Vormarsch in Europa

Andrea Lueg | Jan-Philipp Scholz
27. Dezember 2019

16.000 nigerianische Frauen sollen allein seit 2016 als Opfer von Menschenhändlern nach Europa gekommen sein. Die meisten werden zur Prostitution gezwungen. Die Mafia-Geheimbünde agieren immer brutaler, sagen Ermittler.

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Italien Menschenhandel Zwangsprostitution
In Europa, hier im italienischen Mailand, arbeiten viele nigerianische Frauen als Prostituierte - oft unter ZwangBild: picture-alliance/ROPI

In der Vulkanstraße in Duisburg ist schon so mancher Traum einer jungen Frau zum Alptraum geworden. Hier, in einem der größten Rotlichtviertel Deutschlands, landen immer mehr Frauen aus Nigeria. Die meisten von ihnen werden von nigerianischen Menschenhändlern eingeschleust, sagt Barbara Wellner von Solwodi, einer Organisation, die Opfern von Menschenhandel und Zwangsprostitution hilft. Häufig kämen sie aus prekären Verhältnissen: "Junge Frauen, die häufig kaum die Schule besuchen konnten, die nur einen Elternteil oder keine Eltern mehr haben", sagt Wellner der DW.

Zwang mit faulem Zauber

Nigerianische Menschenhändler
"Ich wurde in die Prostitution getrieben", steht auf diesem Plakat in LagosBild: DW/Jan-Philipp Scholz

Häufig geraten solche Mädchen in ihrer Heimat ins Visier von Menschenhändlern und werden über ein weit verzweigtes Netz weiter vermittelt, bis sie schließlich in Deutschland landen - bei sogenannten "Madames", weiblichen Zuhälterinnen. Schon in Nigeria wird den jungen Frauen klar gemacht, dass ihre Reise viel Geld kosten wird - was aber kein Problem sei, da man in Europa gutes Geld verdienen könne.

Um der Abmachung, das Geld zurückzuzahlen, mehr Nachdruck zu verleihen, werden die Frauen mit einem Juju-Zauber belegt. Bei solchen Schwurritualen werden oft Tiere geschlachtet und Tierblut getrunken. Den Frauen wird eingebläut, dass ihre Verwandten sterben oder krank werden, wenn sie die Schulden nicht begleichen oder die Abmachung verraten. In Europa sind die Bordelle der "Madames" dann oft der einzige Ort, das Geld aufzutreiben.

Anstieg in Deutschland

Deutsche Polizeibehörden griffen 2018 insgesamt 68 Opfer nigerianischer Menschenhändler auf, deutlich mehr als noch im Vorjahr. Sie machten mit 61 Prozent den größten Teil unter afrikanischen Opfern des Menschenhandels aus. Auch wurden 41 nigerianische Tatverdächtige gefasst, fast doppelt so viele wie 2017, heißt es in einem Bericht des Bundeskriminalamts.

Auf internationaler Ebene beteiligt sich Deutschland seit dem Jahr 2012 am EU-Projekt "ETUTU". Die EU-Staaten ergreifen dabei in Abstimmung mit Nigeria Maßnahmen gegen international agierende nigerianische Täternetzwerke im Bereich Menschenhandel. Wie wichtig ein länderübergreifender Blick ist, zeigt das Beispiel Italien. Hier betreten die meisten Nigerianerinnen das erste Mal europäischen Boden.

Nigerianische Menschenhändler
Hafen von Catania: In Sizilien kommen viele Migranten aus Afrika anBild: DW/Jan-Philipp Scholz

Andrang im Frauenhaus

Helen Okoro ist vor mehr als zwanzig Jahren nach Italien gekommen. Einst selbst Opfer von Menschenhändlern, arbeitet sie heute in der Casa Agata, einem katholischen Frauenhaus in der sizilianischen Stadt Catania. Sie hat hautnah miterlebt, wie sich der Menschenhandel in den letzten Jahren verändert hat. Inzwischen bitten so viele Frauen hier um Hilfe, dass die Mitarbeiterinnen den Andrang kaum bewältigen können.

Nigerianische Menschenhändler
Helen Okoro kam selbst als Opfer von Menschenhändlern nach Italien - heute berät sie FrauenBild: DW/Jan-Philipp Scholz

Weit mehr als 20.000 nigerianische Frauen - viele von ihnen minderjährig - sind in den vergangenen drei Jahren über das Mittelmeer nach Italien gekommen. Die Vereinten Nationen schätzen, dass rund 80 Prozent von ihnen Opfer von Menschenhändlern sind oder sich in akuter Gefahr befinden, zu Opfern zu werden. Für wirklich besorgniserregend hält Helen Okoro, wie viel brutaler und professioneller das Geschäft geworden ist.

Auf Sizilien ist bereits die Rede von einer neuen "Mafia Nigeriana". Der Unterschied zu den italienischen Mafia-Clans ist, dass hier sowohl Täter als auch Opfer aus dem Ausland kommen und am Rande der Gesellschaft leben. Sizilianische Journalisten werfen den italienischen Behörden vor, deshalb mit weniger Nachdruck gegen die Organisationen vorzugehen.

Diesen Vorwurf will Staatsanwältin Lina Trovato nicht auf sich sitzen lassen. Man beobachte das Phänomen der Organisierten Kriminalität aus Nigeria schon sehr lange, so Trovato. Die sogenannte "Neue Mafia" aus Nigeria sei keine Einheit, sondern setze sich vielmehr aus einer Vielzahl einzelner Geheimbünde und krimineller Gangs zusammen, etwa der "Schwarzen Axt", den "Wikingern" und der "Supreme Eiye Bruderschaft", wie sie sich nennen.

Nigerianische Menschenhändler
Im Frauenhaus Casa Agata lernen die Frauen, wie man italienische Pasta herstelltBild: DW/Jan-Philipp Scholz

Paradoxe Folge des Erfolgs

In Nigeria befasst sich die Behörde zur Verhinderung von Menschenhandel (NAPTIP) mit den Aktivitäten der Geheimbünde. Daniel Atokolo, NAPTIP-Regionalchef in der Metropole Lagos im Südwesten des Landes, beobachtet die zunehmende Brutalität der Menschenhändler. Dass sie brutaler werden, liegt paradoxerweise ausgerechnet an besserer Aufklärung: Immer mehr junge Frauen verstehen, wie die Menschenhändler den Juju-Glauben instrumentalisieren, um sie gefügig zu machen. Den Madames in Europa fehlt zunehmend ein Werkzeug zur psychologischen Kontrolle der Frauen. Stattdessen greifen die Netzwerke nun häufiger zu brutaleren Methoden.

Und in diese Lücke drängen nun verstärkt die Geheimbünde, die in Europa neuerdings als Nigerianische Mafia bezeichnet würden, sagt Atokolo der DW: "Diesen Jungs geht es nicht mehr um psychologische Konditionierung mit irgendwelchen Schwüren. Das ist nur noch blanker Terror. Es gibt also einen klaren Zusammenhang zwischen der Rücknahme der Juju-Schwüre und dem verstärkten Auftreten dieser Gangs, die die Opfer zu absolutem Gehorsam zwingen."

Nigerianische Menschenhändler
Verdächtige vor der Polizeistation der Anti-Cultism-Unit in Lagos Bild: DW/Jan-Philipp Scholz

"Europa ist hungrig"

Mehr als 50 verschiedene Geheimbünde gibt es inzwischen in Nigeria. Zu ihren Mitgliedern sollen selbst einflussreiche Politiker und Geschäftsleute zählen. Über ihre internen Strukturen ist wenig bekannt. Einer, der sie von innen gesehen hat, ist John Omoruan. Er war lange Jahre ein hochrangiges Mitglied der "Schwarzen Axt". Der Aussteiger gibt sich als Geläuterter - er bereue viele seiner Taten.

Trotzdem sieht er beim Thema Menschenhandel einen erheblichen Teil der Schuld bei den Europäern. Sie seien es doch, die immer preiswertere und immer jüngere Mädchen wollten, sagt Omoruan der DW: "Am Ende geht es doch nur ums Geld. Europa ist hungrig nach verbotenen Dingen. Drogen, minderjährige Mädchen, alles Verbotene. Und Nigeria hat eben das passende Angebot dafür. Solange ihre Waren gefragt sind, werden die Schwarze Axt und all die anderen Geheimgruppen weiter Erfolg haben und viel Geld machen."