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Als Japan ein anderes Land wurde

11. März 2012

Die Hamburgerin Lucy Fricke war als Goethe-Institut-Stipendiatin in Kyoto, um für einen Roman zu recherchieren. Hier beschreibt sie das Leben in Japan kurz nach der Katastrophe von Fukushima.

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Ein ramponiertes Reklame-Schild der Firma Yamaha - Sinnbild für das heutige Japan (Foto: Lucy Fricke)
Sinnbild für das heutige JapanBild: Lucy Fricke

Das Flugzeug, mit dem ich Mitte April nach Osaka flog, war halbvoll und machte den Eindruck als würde es gleich auseinanderfallen. Ich fragte mich, ob die Fluggesellschaft es danach verschrotten würde. An der Passkontrolle für Ausländer warteten zwei Chinesen. So schnell war ich noch in kein Land eingereist. Mit dem Zug fuhr ich weiter nach Kyoto, zur Villa Kamogawa, der Künstlerresidenz des Goethe-Instituts, wo ich als erste Stipendiatin einziehen sollte. Die Freude und ungeahnte Dankbarkeit, mit der ich dort empfangen wurde, lösten schlagartig alle Zweifel an meiner Entscheidung auf.

Die ersten drei Tage hatte ich jede Menge Pressetermine, ein Fernsehteam kündigte sich an. Allein schon die Tatsache, dass ich ein Flugzeug bestiegen hatte, war Grund für die Begeisterung. Das fühlte sich damals schon bizarr an und im Rückblick erst recht. Fast ausschließlich ging es um die Fragen, wie Japan mir gefällt, ob ich denke, dass das Image von Japan gelitten hat, ob meine Familie mich von der Reise abhalten wollte. Danke, dass Sie gekommen sind, sagten sie, und lächelten über ihre Traurigkeit hinweg.

Der Garten des Heian Jingu Schreins in Kyoto (Foto: Lucy Fricke)
Japan wie im Bilderbuch: Der Garten des Heian Jingu Schreins in KyotoBild: Lucy Fricke

Algen essen, oder besser nicht?

Später saßen wir in einem Lokal und ich musste daran denken, dass ich einem Freund versprochen hatte, keine Algen zu essen, die jetzt aber in einem kleinen Schälchen vor mir standen. Was los sei, fragten meine beiden Begleiterinnen und dann sagten sie: Aber die sind doch eingelegt. Bestimmt schon im Februar wurden die eingelegt, wenn nicht schon im letzten Jahr, und dabei fingen sie zu kichern an. Besser noch wären natürlich die getrockneten Algen, die sind ja uralt und dann gibt es schließlich noch Natto, die fermentierten Sojabohnen, die sind nun wirklich gar kein Problem. Und wie das manchmal so kommen kann, lachten wir plötzlich wie eine alte Mädchenclique. Ich glaube, das war der erste Scherz, den sie über Fukushima machten und es sollte während dieser Zeit der einzige bleiben.

Tokio - eine Stadt im Dunkeln

Immer wieder sahen wir das verschwommene Bild vom Kraftwerk, Staatsmänner, die in frische Tomaten aus der Region bissen, hörten neue Erklärungen von Tepco, die niemanden mehr interessierten, das Eingeständnis von Kernschmelzen in drei Reaktoren.

Blick vom Kurama Tempel in die Berge von Kyoto (Foto: Lucy Fricke)
Blick vom Kurama Tempel in die Berge von KyotoBild: Lucy Fricke

In diesen Monaten wurde vieles zum Alltag, die Nuklearwerte, das permanente Risiko, dass die Fukushima-Ruine dem Regen und Wind nicht standhält, die Angaben über den aktuellen Stromverbrauch. In Tokio stand es auf nahezu allen öffentlichen Monitoren, wie knapp die Stadt vor einem Black Out steht, die Stromversorgung in die Knie geht. Es hieß, bei 98 Prozent Verbrauch würde ein Alarm losgehen. Zur Rush Hour wurden Beleuchtung und Rolltreppen vorsorglich ausgeschaltet, die Klimaanlagen liefen auf halber Kraft und die Angst vor dem Sommer ging um.

Als wir an einem Abend mit der Bahn nach Odaiba fuhren, zwischen den gigantischen Bürotürmen hindurch, war fast nirgends Licht. Wir saßen in der Bucht von Tokio, von der man sagte, der Ausblick auf die Skyline sei schlicht umhauend - und das war er auch, nur in ganz anderer Art. Vor mir lag die dunkelste Skyline, die ich je gesehen hatte. Im Wasser spielten Kinder, wir hockten im Sand, tranken Dosenbier, sagten: Gott, ist das dunkel, und sprachen nicht von dieser fernen Angst, die uns das machte.

Der aktuelle Stromverbrauch wird in Tokio auf Monitoren angezeigt (Foto: Lucy Fricke)
Der aktuelle Stromverbrauch wird in Tokio auf Monitoren angezeigtBild: Lucy Fricke

Arigato und Lilli Marleen

Vor meiner Abreise aus Kyoto in die Hauptstadt hatten sie mir geraten, vorsorglich eine Taschenlampe mitzunehmen. Tokio war leise und dämmrig und lief weiter wie eine Maschine. Nur dass immer irgendwer fragte: Hast du das auch gespürt? Doch ich spürte nichts, diese dauernden kleinen Beben, die ständige Vibration merkte ich nicht, weil ich nie ein Erdbeben erlebt hatte, mein Körper hatte keine Erinnerung daran. Ich hörte nur das Knacken der Fensterscheiben im 14. Stock.

Bei meiner Reise durch den Süden hieß es überall Arigato: Danke, dass Sie uns besuchen, trotz Regenzeit und Nuklearkatastrophe. In der Touristeninformation sangen mir die Männer Lilli Marleen vor. Der internationale Tourismus war angeblich um 80 Prozent eingebrochen, was ich mir kaum vorstellen konnte – ich konnte die restlichen 20 Prozent nirgends erkennen.

Kirschblüte im Kaisergarten von Kyoto: Die Menschen tragen Mundschutz gegen die Pollen, nicht etwa aus Furcht vor Strahlung (Foto: Lucy Fricke)
Kirschblüte im Kaisergarten von Kyoto: Die Menschen tragen Mundschutz gegen die Pollen, nicht etwa aus Furcht vor StrahlungBild: Lucy Fricke

Der erste Tourist

Der Reiseführer schien von einer längst vergangenen Zeit zu sprechen. Bei den meisten Sehenswürdigkeiten und Weltkulturerbestätten riet er dringend zum frühzeitigen Erscheinen, sprach von regelmäßiger Überfüllung, doch ich stand selbst am Goldenen Tempel allein. Die japanischen Schulklassen mal ausgenommen, die mussten da schließlich hin.

Die Tradition fährt mit, Mädchen im Kimono in der Straßenbahn (Foto: Lucy Fricke)
Die Tradition fährt mit: Mädchen im Kimono in der StraßenbahnBild: Lucy Fricke

Mitte Juni sah ich den ersten Backpacker durch die Straßen von Kyoto gehen, und fast wäre ich auf ihn zugerannt, hätte ihm auf die Schulter geklopft und gesagt: Schön, dass du da bist. Einfach nur ein Typ mit Rucksack, ein Tourist aus dem Westen, einfach nur ein: Es geht weiter.

Wie Japan ein anderes Land wurde

Das muss es bekanntlich immer, egal, was sich in der Zwischenzeit alles geändert hat: Das Vertrauen in die Regierung war verschwunden, hatte sich in Wut, wenn nicht gar Verachtung gewandelt. Demonstrationen, Bürgerinitiativen, Hilfsprojekte. Tausende Menschen in Notunterkünften. Die Verstrickungen von Politik, Medien und Atomindustrie wurden immer klarer, niemand glaubte mehr etwas. Die Heiratsquote begann zu steigen.

Als ich Ende Juli zurückkam nach Berlin, fragte man mich in der Nachbarschaft, wo ich so lange gewesen sei. Und als ich Japan sagte, sagten sie: Japan! Toll! Das soll doch so schön sein. Es folgte eine kurze Stille und schließlich: Japan…?

Der Fluss Kamogawa in Kyoto – Lucy Frickes täglicher Weg zum Bäcker. Statt einer Brücke führen große Steine über den Fluss (Foto: Lucy Fricke)
Der Fluss Kamogawa in Kyoto – Lucy Frickes täglicher Weg zum BäckerBild: Lucy Fricke

Autorin: Lucy Fricke
Redaktion: Birgit Görtz