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Tag der Wahrheit für die EZB

Brigitte Scholtes Frankfurt am Main
21. Juli 2022

Klar ist, dass die Europäische Zentralbank heute erstmals seit Jahren die Zinsen anheben wird. Nur wie hoch es gehen wird, bleibt die spannende Frage.

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Christine Lagarde | Präsidentin der Europäischen Zentralbank
Muss eine schwierige Entscheidung treffen: EZB-Chefin Christine LagardeBild: Thomas Lohnes/AFP/dpa/picture alliance

Die Inflation im Euroraum bei mehr als acht Prozent, der Eurokurs auf dem Niveau des Dollar, dazu noch eine Regierungskrise in Italien: In diesem Umfeld trifft sich an diesem Donnerstag der Rat der Europäischen Zentralbank, um über die weitere Richtung der Geldpolitik zu entscheiden.

EZB-Präsidentin Christine Lagarde hatte bei der letzten Ratssitzung im Juni eine Zinswende angekündigt, es wäre die erste seit elf Jahren. Danach sollen die Leitzinsen zunächst um 25 Basispunkte steigen, im September dann wahrscheinlich um 50 Basispunkte. Die Zeit der Negativzinsen wäre also spätestens dann vorbei. Schon jetzt aber reagieren viele Banken, so haben allein in Deutschland inzwischen fast 50 Geldhäuser Strafzinsen für die Einlagen ihrer Kunden ganz gestrichen, weitere dürften in den kommenden Wochen folgen.

Deutschland Gebäude der Europäischen Zentralbank in Frankfurt a.M.
Sitz der Europäischen Zentral in Frankfurt am MainBild: imago images/J.Tack

EZB hängt hinterher

Doch wie schnell die EZB die Zinsen anhebt, das ist die spannende Frage. "Die EZB ist zu spät dran", meint Gertrud Traud, Chefvolkswirtin der Landesbank Hessen-Thüringen, der Helaba. Sie nennt angesichts der historischen hohen Inflationsrate von zuletzt 8,6 Prozent im Euroraum die Situation "prekär": "Überall in der Welt haben die Notenbanken die Zinsen schon erhöht, nun muss auch die EZB zeigen, dass sie ihren Auftrag ernst nimmt und die Inflation bekämpft."

Tempo und Ausmaß der geldpolitischen Normalisierung aber sind umstritten - auch im EZB-Rat. So kann sich Bundesbank-Präsident Joachim Nagel sogar vorstellen, die Leitzinsen in den restriktiven Bereich zu erhöhen, damit würde also die Wirtschaft aktiv gebremst. Nagel gehört eher zu den Vertretern einer strengeren Geldpolitik (die Falken), während die Befürworter einer lockereren Gangart (die Tauben), vor den Risiken einer Rezession warnen, vor allem wegen der Folgen des Kriegs in der Ukraine. Auch unter Beobachtern ist der Kurs umstritten.

Bundesbank-Chef Joachim Nagel
Vertreter einer strengeren Geldpolitik: Bundesbank-Chef Joachim NagelBild: Nils Theis/Deutsche Bundesbank/picture alliance

Mehr als 25 Basispunkte?

So setzt Karsten Junius, Chefvolkswirt der schweizerischen Bank Safra Sarasin, auf einen Zinsschritt von 50 Basispunkten. Die EZB sollte sich in dieser Lage nicht mehr so stark an ihren Ankündigungen ausrichten, der sogenannten forward guidance. Selbst wenn die Notenbank zunächst nur einen kleinen Zinsschritt unternehme: Es sei wichtig, so meint Gertrud Traud, dass die Währungshüter deutlich machten, dass sie bereit seien, auch nach dem September die Zinsen weiter anzuheben, damit sie ihrem Auftrag nachkomme. Der lautet ja, die Inflation auf einem Niveau von zwei Prozent zu halten, damit der Wert des Euro stabil bleibt.

Die aktuelle Lage aber ist nicht einfach für die Hüter des Euro. Zum einen müssen sie zwar die Geldpolitik normalisieren. Doch treten sie zu stark auf die Bremse, würgen sie eben die Konjunktur ab. "An den Energiepreisen können sie ohnehin nichts ändern", erklärt Martin Lück, Chefvolkswirt Deutschland des weltgrößten Vermögensverwalters Blackrock, "also müsste man dann die Preise auf andere Dinge, Güter und diese Leistungen auf diese Art senken."

Wenn das Gas ausbleibt

Auch ohne Zutun der EZB steigen die Rezessionsgefahren an. Für ein wenig Entspannung sorgt zumindest die Nachricht, dass Russland seit heute - nach der Wartung der Gaspipeline Nord Stream 1 - den Gashahn zumindest wieder etwas aufgedreht hat. 

Die Geldpolitik "normalisieren", bedeutet deshalb nach Ansicht von Lück, an den "neutralen Zins" heranzugehen, also den Zins, bei dem die Volkswirtschaft weder beschleunigt noch gebremst wird." Wo der im Euroraum derzeit liegt, das sei jedoch schwer zu bestimmen.

Unter Druck könnte die EZB auch sein, weil sich der Zinsabstand zu den USA weiter ausweitet. Nachdem im Juni die Inflation dort 9,1 Prozent erreicht hat, dürfte die amerikanische Notenbank Fed die Leitzinsen von derzeit 1,5 bis 1,75 Prozent wahrscheinlich nochmals um 75 Basispunkte erhöhen. Das drückt weiter auf den Kurs des Euro, der ja vor wenigen Tagen schon auf das Niveau des US-Dollar gesunken war.

Und zuletzt schauen die Finanzmärkte auch auf Italien. Die Regierungskrise dort macht die Lage für die EZB nicht leichter. Nun hat Ministerpräsident Mario Draghi sein Amt zum zweiten Mal niedergelegt. Im Herbst könnte es sogar zu Neuwahlen kommen. Die könnten zu "erheblichen Turbulenzen" an den Staatsanleihemärkten im Euroraum führen, vermutet Edgar Walk, Chefvolkswirt des Bankhauses Metzler, sollten Eurokritiker die neue Regierung führen. Die EZB hat ein sogenanntes Antifragmentierungs-Instrument angekündigt. Damit will sie mögliche Turbulenzen an den europäischen Staatsanleihemärkten vorsorglich eindämmen.

Der Artikel wurde am 21.07.2022 aktualisiert.