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Wirbel um ein Stück Haut

Karin Jäger18. Juli 2012

Beschneidungen sollen gesetzlich geregelt werden. Juden und Muslime fordern, den Eingriff bei Jungen aus religiösen Gründen zu erlauben. Kritiker sagen, das widerspreche dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit.

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Ein Junge wird beschnitten. Foto: Shamsharin Shamsudin (dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Beschneidungen führt Dr. Michael Ramirez-Schulschenk regelmäßig durch, "aber prinzipiell nur nach medizinischer Indikation", fügt der Urologe hinzu. Er betreibt in der Bonner Innenstadt seine Praxis und nicht in einem Viertel, in dem bevorzugt Muslime wohnen. Dort würden wahrscheinlich häufiger Mediziner mit solch einem Anliegen aufgesucht, vermutet er.

Über den Sinn eines operativen Eingriffs aus medizinischer Sicht

Bei einer Vorhautverengung empfiehlt Ramirez-Schulschenk eine Operation. Bei männlichen Säuglingen sei eine Phimose, so der Fachbegriff, natürlich. Diese verwachse in der Regel bis zum ersten Lebensjahr. "Vorher sollte man das nicht behandeln", meint der Mediziner, der solche Eingriffe nur unter Vollnarkose und nach eingehenden Vorgesprächen mit den Eltern vornimmt. Eine Verharmlosung dieses Eingriffs kann er nicht nachvollziehen, weil es zu Verengungen an der Harnröhrenmündung kommen kann, die dem Patienten lebenslang Probleme bereiten oder zu Nachblutungen. So war das auch bei einem wenige Monate alten Jungen, dessen besorgte Mutter in der Bonner Praxis anrief. Ihr Kind sei am Vortag beschnitten worden und nun würde es so stark bluten, erzählte sie. Als Ramirez-Schulschenk ihr riet, den Kollegen zu konsultieren, der die OP durchgeführt hatte, sagte sie, dass sei nicht möglich, weil der Schnitt tags zuvor in Marokko erfolgt sei. Dorthin sei die Familie für das Ritual geflogen und am gleichen Tag nach Bonn zurückgekehrt.

Der türkische Beschneider Murat Özkan (r), öffnet die Hose eines Jungen, um ihn anschließend zu beschneiden. (Foto: dpa )
Festakt - Beschneidung in der TürkeiBild: picture-alliance/dpa

Bei einem ähnlichen Fall, der vor dem Kölner Landgericht verhandelt wurde und der die ganze Diskussion ins Rollen gebracht hatte, ging es um solch eine massive Nachblutung. Die Richter hatten daraufhin die Entfernung der Vorhaut aus religiösen Gründen als einfache Körperverletzung eingestuft. Seither lehnen viele Ärzte eine nicht medizinisch notwendige Beschneidung ab, um nicht zu riskieren, sich wegen einer Straftat verantworten zu müssen.

Rechtssicherheit für die Mediziner nach Kölner Urteil

"Obwohl Befürworter immer wieder auf diese uralte Tradition hinweisen und sie die weltweit am häufigsten durchgeführte Operation ist, hat noch niemand eine Statistik über die Nachwirkungen von Beschneidungen vorgelegt", argumentiert der Facharzt, der froh über das Gerichtsurteil ist, da es ihm Rechtssicherheit gebe. Allerdings befürchtet er bei einem endgültigen Verbot durch den Gesetzgeber einen "Beschneidungstourismus" ins Ausland. Dies haben Vertreter der Muslime bereits angekündigt, während jüdische Verbände gar befürchten, dass Leben nach ihrer Tradition in Deutschland gar nicht mehr möglich sei, und in diesem Zusammenhang auf den Holocaust im Dritten Reich verwiesen.

Jüdische Beschneidungszeremonie, acht Tage nach der Geburt eines Jungen, der, festlich gekleidet, zur Zeremonie getragen wird, umgeben von Gläubigen. (Foto:Noah Berger/AP/dapd)
Am 8. Tag - jüdische BeschneidungBild: AP

Michael Ramirez-Schulschenk hatte selbst einmal Gelegenheit, an einer jüdischen Beschneidungszeremonie "Brit Mila" teilzunehmen. "Ohne Narkose, schlicht mit einem Skalpell, wurde die Vorhaut nach vorne gezogen und einfach abgeschnitten. Nachher wurde auch nichts vernäht", erinnert sich der Arzt.

Tradition geht vor steriler Versorgung

Die Vorhaut besteht aus zwei Schichten, die die Schleimhaut der Eichel überdecken und schützen. Bei einer Beschneidung werden beide Schichten voneinander getrennt. Damit das danach ästhetisch aussieht, nähen Mediziner die beiden Schichten wieder zusammen. Die Naht beschleunigt auch den Heilungsverlauf. Dennoch können sichtbare Narben zurückbleiben.

Bei einer jüdischen Brit Mila wird nicht genäht. Auch habe er damals erkennen können, so Urologe Ramirez-Schulschenk, dass die ganze Prozedur zwar unter sauberen, nicht aber unter sterilen, keimfreien Bedingungen stattgefunden habe. Juden zelebrieren diese Tradition genau acht Tage nach der Geburt des Jungen.

Die Kinder von Muslimen sind zum Zeitpunkt der Beschneidung älter. Was für die Gäste ein Fest ist kann für den Jungen, der sich mit unbedeckten Genitalien allen Anwesenden offenbaren muss, eine Tortur sein: entwürdigend, beschämend, brutal und oft sehr schmerzhaft.

Irreversibler Eingriff bei einem sensiblen Stück Haut

Für den Mediziner Ramirez-Schulschenk, der sich als praktizierender Christ bezeichnet, ist das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit elementarer als das Grundrecht auf Religionsfreiheit. "Wir haben lange unter religiösen Zwängen gelitten und lange darum gekämpft, uns davon zu befreien", meint er. Wenn die Gesetzgebung nun beschließe, dass man sich unter bestimmten Fällen einer religiösen Tradition unterordnen solle, sei das ein Rückschritt.

ARCHIV - Ein Junge wird in der Nationalmoschee in Kuala Lumpur, Malaysia, beschnitten (Archivfoto vom 22.11.2009). Die Organisation «Religionsgemeinschaft des Islam» hat nach dem Urteil zur Strafbarkeit von Beschneidungen von Jungen vor der Kriminalisierung von Eltern und Ärzten gewarnt. «Das ist ein harmloser Eingriff mit tausende Jahre alter Tradition und hohem Symbolwert», sagte der Vorsitzende Demir am Mittwoch (27.06.2012) der Nachrichtenagentur dpa in Stuttgart. Foto: SHAMSHAHRIN SHAMSUDIN +++(c) dpa - Bildfunk+++
Schmerzhafter Eingriff am GeschlechtsorgranBild: picture-alliance/dpa

Den Eingriff kann man nicht rückgängig machen. Auch nicht wenn das Kind später als Erwachsener einmal die Meinung vertritt, dass er ästhetisch misslungen sei oder er den Wunsch hat, zu einer anderen Religion zu konvertieren.

"Unter medizinischen Aspekten ist der Eingriff eine Verstümmelung, denn die natürliche Anatomie wird aufgehoben", meint der Mediziner. Schließlich hat die Vorhaut die Funktion, die Eichel zu schützen. Dennoch könne man dieses bei Juden und Muslimen übliche Ritual nicht mit der in afrikanischen Ländern angewandten Genitalverstümmelung von Mädchen vergleichen.

"Man sollte warten, bis das Kind selbst entscheiden kann, ob es diesen Schnitt machen lassen will", fordert Ramirez-Schulschenk.

Vom Opfer zum Aufklärer

Mario Lichtenheldt hätte sich gewünscht, selber über diesen Schnitt entscheiden zu können. Aus medizinischen Gründen musste Mario Lichtenheldt im Alter von vier Jahren den Eingriff über sich ergehen lassen. Dass der wirklich notwendig war, bezweifelt der heute 47jährige, denn eine Phimose sei eigentlich gar keine Krankheit und nur dann überhaupt behandlungsbedürftig, wenn sie von wiederholten Entzündungen oder Schmerzen begleitet werde oder sich bis zur Pubertät nicht von selbst erledigt habe. Eine Beschneidung sei aber auch in diesen Fällen nur selten nötig, denn neben Salbentherapien gäbe es heute längst modernere, schonendere OP-Verfahren, bei denen die Vorhaut vollständig erhalten bleibe. Mario Lichtenheldt beruft sich dabei unter anderem auf den Münchner Kinderurologen Prof. Dr. Maximilian Stehr, der hierzu zahlreiche Fachartikel veröffentlicht hat.

An den Eingriff kann Mario Lichtenheldt sich nicht mehr erinnern, wohl aber an die Hänseleien Gleichaltriger in den Jahren danach - und an die nagenden Selbstzweifel an der eigenen Persönlichkeit. "Ich habe es vermieden, mich vor Anderen nackt zu zeigen", erzählt er. Gelegenheiten dazu, wie Freibadbesuche, habe er gemieden – aus Scham und um peinlichen Fragen auszuweichen. Und auch im intimen Umgang mit Frauen habe er lange Hemmungen gehabt. Bis er 2006 vom Tod eines 4-Jährigen in Hamburg erfuhr.

Text. Buchtitel: "un-heil", ein Ratgeber von Mario Lichtenfeldt über Vorhaut und Beschneidung. Foto: privat, mit Genehmigung des Autors. Zulieferer: Karin Jäger
Doppeldeutig: Buchtitel "un-heil"Bild: Tredition

Er war nach einer Phimose-Operation gestorben. Der Buchautor Lichtenheldt suchte den Kontakt zu dessen Mutter, wollte mehr über das Tabuthema wissen. Er erfuhr, dass der Junge gar nicht behandlungsbedürftig gewesen wäre. Aus medizinischer Sicht sei die Beschneidung meist vermeidbar. In diesem Frühjahr ist sein Buch "un-heil: Vorhaut, Phimose & Beschneidung" erschienen, ein Ratgeber für Laien. Lichtenheldt ist bei der Recherche zum Experten geworden, hat "Opfer" befragt, die angeben, der Eingriff sei gegen ihren Willen erfolgt, die Probleme beklagen beim Orgasmus, die sich als männliche Persönlichkeit schlicht unvollständig fühlen.

Körperliche Unversehrtheit contra religiöse Freizügigkeit

Das Buch befasst sich auch mit religiösen Aspekten der Beschneidung. Autor Lichtenheldt sieht durch die aktuelle Rechtslage einen Konflikt.

Denn in Deutschland seien Jungen mit einem beschnittenen Geschlechtsteil in der Minderheit. "Das nackte Kind fällt auf" sagt Mario Lichtenheldt. "Unsere Gesetze besagen auch einerseits, dass Kindern keine Gewalt angetan werden darf, weder körperlich noch seelisch. Anderseits berufen sich Religionsvertreter auf die Tradition, die schmerzhaft ist und durchaus bleibende Schäden hinterlässt."

Text: Mario Lichtenfeldt, Buchautor, Archivfoto: privat, Rechtefrei für DW verwendbar. Zulieferer: Karin Jäger
Buchautor Mario LichtenfeldtBild: privat

Verpasse man einem Kind eine Ohrfeige, laufe man in Deutschland zu Recht Gefahr, wegen körperlicher Züchtigung angezeigt zu werden. Andererseits wollten Muslime und Juden durchsetzen, dass dauerhafte Verletzungen an Kindern zur Religion gehörten.

Lichtenheldt bezieht sich auf fundierte juristische Positionen bei der religiösen Beschneidung, die in Fachmagazinen erschienen sind, wie der Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik. Wolle man dem deutschen Recht Genüge tun und gleichzeitig die Gefühle und Traditionen der islamischen und jüdischen Mitbürger nicht verletzen, müsste es bei dem Gesetz auf einen Kompromiss hinauslaufen. Das Kind müsste entscheiden, was es verstandesgemäß erst ab einer gewissen Reife könne, argumentiert Lichtenheldt: "Bei einer Beschneidung wird auch die Religionsfreiheit des Kindes beschnitten."