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Deutsche im Gulag

Birgit Goertz22. Februar 2013

Zehntausende Deutsche saßen in Stalins Lagern in der Sowjetunion. Doch ihre Geschichten werden erst jetzt wirklich publik. Es sind erschütternde Zeugnisse einer pervertierten Utopie.

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Der Wachtturm eines Straf- und Arbeitslagers in Workuta
Bild: picture-alliance/akg

"Zwar konnte ich die fremdländischen Buchstaben nicht lesen und die Worte nicht verstehen, doch wusste ich, was dort stand: 'Proletarier aller Länder, vereinigt euch!' Mich übermannte ein unbeschreibliches Gefühl – wie es ein religiöser Mensch beim Anblick der Jungfrau Maria empfinden mag. So betrat ich meine neue Welt." Wolfgang Ruge ist 16 Jahre alt und strammer Kommunist, als er mit seiner Familie 1933 aus dem nationalsozialistischen Berlin in die Sowjetunion, das gelobte Land, flieht. Der junge Mann bemüht sich in der neuen Heimat nach Kräften, allerorten Merkmale für die Überlegenheit des Kommunismus zu finden.

Die himmelschreiende Armut, die allgegenwärtige Paranoia, die enorme Rückständigkeit des Landes nimmt Wolfgang Ruge wahr, doch es überwiegt die tief empfundene, innere Verpflichtung, begeistert sein zu müssen. Schon bald bekommt das Bild allerdings deutliche Kratzer. Die verharmlosend als "Große Säuberungen" bezeichneten Terrorwellen Stalins gegen vermeintliche politische Konkurrenten schockieren den Deutschen. Doch einstweilen tut er das, was ganz Moskau macht: Er duckt sich weg und hofft, verschont zu werden und dem Gulag zu entgehen.

Die Schlafbaracke eines Gulag im Gebiet Perm, 1940, gut 1100 Kilometer östlich von Moskau
Die Schlafbaracke eines Gulag im Gebiet Perm, 1940, gut 1100 Kilometer östlich von MoskauBild: picture-alliance/akg

Ein ganzes Volk zittert vor dem Gulag

Gulag steht als Synonym für die stalinistische Schreckensherrschaft schlechthin. Der Begriff ist eine Abkürzung für "Glavnoe Upravlenie Lagerej". Wörtlich übersetzt heißt das "Hauptverwaltung der Lager". Gemeint ist das System der sowjetischen Straf- und Zwangsarbeitslager. Von 1929 bis 1956 überzieht es die Sowjetunion wie ein dichtes Netz. Dabei sind die Lager als solche keine Erfindung Stalins. Bald nach der Revolution von 1917 ist klar, dass Lenins Bolschewisten nicht vor Repression zurückschrecken: Wer sich der jungen Sowjetmacht auf dem Weg in eine bessere Welt entgegenstellt, soll zu seinem Glück gezwungen werden.

Die ersten Lager entstehen schon Mitte 1918. Doch erst Stalin macht den Terror zum Instrument der Macht. Die größte Ausdehnung erreicht der Gulag Anfang der 1950er Jahre, als es rund 200 weitverzweigte Lagerkomplexe gibt, in denen 2,5 Millionen Menschen unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten und vor sich hin vegetieren. Insgesamt 20 Millionen Menschen sind im Gulag inhaftiert, rund zwei Millionen sterben. Fingierte Anschuldigungen können schon reichen, um in einem Lager zu landen. Ordentliche Verfahren oder gar Gerichtsurteile gibt es nicht.

Während Wolfgang Ruge noch vor dem Gulag zittert, ist Lorenz Lochthofen bereits mittendrin. Der junge Mann war Anfang der 1930er Jahre mit Idealismus und Enthusiasmus im Gepäck in die Sowjetunion aufgebrochen, um seinen Teil zum Aufbau des Sozialismus beizutragen. 1937 findet er sich unschuldig in einem Lager in Workuta wieder, hoch im Norden in der lebensfeindlichen russischen Arktis. 20 Jahre verbringt er in Workuta, als Lagerhäftling und schließlich als Verbannter auf Lebenszeit.

Zwei Menschen, die exemplarisch für viele stehen

Wolfgang Ruge wird 1941, nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion, nach Kasachstan deportiert. Ein Jahr später folgt die Internierung in ein Straflager im nördlichen Ural. Wieviele Deutsche sich insgesamt im Gulag wiederfinden, ist nur schwer zu quantifizieren. Julia Landau ist promovierte Historikerin und forscht an der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora zum Gulag: "Zahlen zu nennen ist schwierig. Ausgangspunkt ist die Frage: Wer galt in den Lagern als Deutscher beziehungsweise wer wurde dort als Deutscher geführt?"

Stalin (rechts im Bild) inspiziert 1937 die Arbeiten am Moskau-Wolga-Kanal, den Gulag-Inhafttierte bauten. Das Bild ist manipuliert: Ihn begleiten der Verteidigungsminister Woroschilow (links) und der spätere Außenminister Molotow (Mitte). Tatsächlich aber war auch noch Geheimdienst-Chef Jeschow abgelichtet. Nachdem dieser in Ungnade gefallen und erschossen worden warm, wurde er aus dem Bild wegretuschiert. (Foto: AFP/GettyImages)
Stalin (rechts im Bild) inspiziert 1937 die Arbeiten am Moskau-Wolga-Kanal, den Gulag-Inhaftierte bauen. Das Bild ist manipuliert: Ihn begleiten der Verteidigungsminister Woroschilow (links) und der spätere Außenminister Molotow (Mitte). Tatsächlich aber war auch noch Geheimdienst-Chef Jeschow abgelichtet. Nachdem dieser in Ungnade gefallen und erschossen worden war, wurde er aus dem Bild retuschiert.Bild: AFP/Getty Images

In den Lagern sitzen verschiedene Personengruppen mit deutschen Wurzeln ein. "Laut der Volkszählung von 1939 waren von den 1,5 Millionen Häftlingen des Gulag ein bis anderthalb Prozent Deutsche, Sowjetbürger deutscher Nationalität und sogenannte Reichsdeutsche." Rein rechnerisch also zwischen 15.000 und 22.500 Menschen. In den Folgejahren steigt die Zahl deutlich. Julia Landau geht davon aus, dass unter den 2,5 Millionen Gulag-Insassen nach Kriegsende rund 37.000 Deutsche sind.

Das Buchcover "Schwarzes Eis. Der Lebensroman meines Vaters" von Sergej Lochthofen (Bild: Rowohlt)
Das Buchcover "Schwarzes Eis. Der Lebensroman meines Vaters" von Sergej LochthofenBild: Rowohlt

Damit stehen die Schicksale von Ruge und Lochthofen stellvertretend für viele tausend Lebensgeschichten. Doch es dauert lange, ehe das Thema "Deutsche im Gulag" eine breitere Öffentlichkeit erreicht. Erst in den vergangenen Jahren erscheinen Biografien, Dokumentationen, Filme. 2012 befasst sich die Ausstellung "Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929–1956" erstmals in Deutschland mit dem sowjetischen Lagersystem (wir berichteten). "Im Grunde ist Thema bekannt. Auch große Quellensammmlungen sind seit der Perestrojka zugänglich", sagt Julia Landau.

Rückkehr nach Deutschland – in die DDR

Stalins Tod 1953 und das einsetzende politische "Tauwetter" unter dem neuen starken Mann im Kreml, Nikita Chruschtschow, nähren die Hoffnung auf ein Ende des Alptraums. Doch die werden einstweilen enttäuscht. Bis die Historie wieder einmal ihre ironische Seite zeigt. In Sergej Lochthofens Buch "Schwarzes Eis" heißt es: "Wieder zeichnete sich so ein merkwürdiger Winkelzug in der Geschichte ab, ein Hakenschlag, wie ihn Lorenz in seinem Leben schon so oft zu spüren bekommen hatte: Die einzige Hoffnung für die Altkommunisten war der Antikommunist Adenauer."

Der erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland erwirkt 1956 die Freilassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen, der Gulag-Häftlinge sowie der politischen Häftlinge und der in der sowjetischen Besatzungszone verhafteten Gefangenen.

Sowohl Lorenz Lochthofen als auch Wolfgang Ruge beschließen, mit ihren Familien in die DDR auszureisen. Dabei ist ihnen bewusst, dass sie dies um den Preis des Schweigens tun. Sie glauben an eine zweite Chance  – für sich und für die kommunistische Utopie. Kein Einzelfall, sagt Julia Landau: "Die meisten kommunistischen Rückkehrer sind in die DDR zurückgekehrt, weil ihnen dort Angebote gemacht worden sind, den Staat mitzugestalten. Viele von ihnen sind zudem immer noch überzeugt von der kommunistischen Idee."

Das Cover von Wolfgang Ruges Buch: "Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion" (Bild: : Rowohlt)
Das Cover von Wolfgang Ruges Buch: "Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion"

Was in der DDR nie gedruckt werden durfte

In der DDR entwickelt sich Wolfgang Ruge zu einem Vielschreiber: Er arbeitet als Historiker, publiziert hunderte Abhandlungen, vor allem zur Weimarer Republik und dem Aufstieg der Nationalsozialisten. Ruges womöglich wichtigstes Werk, seine eigene Geschichte, erscheint erst 2012, sechs Jahre nach seinem Tod.

Lorenz Lochthofen macht Karriere in der DDR-Wirtschaft: Er steigt zum Betriebsleiter auf, ist sogar vier Jahre Mitglied im Zentralkomitee der SED, der ostdeuschen Staats- und Einheitspartei. Dennoch bleibt er ein Außenseiter und beargwöhnter "Ehemaliger". Noch zu seinen Lebzeiten beginnt sein Sohn Sergej, die Erzählungen des Vaters niederzuschreiben. Die Notizen versteckt er sorgfältig. 1989 stirbt Lorenz Lochthofen. Auch seine Geschichte erscheint erst 2012.

Beide Bücher erzählen auf erschütternde Art und Weise, was es für den Einzelnen ganz konkret bedeutet, wenn eine Utopie zerstörerische Kraft entfaltet. Wer die Geschichten von Wolfgang Ruge und Lorenz Lochthofen liest, ist mittendrin: im Alptraum des Gulag.

Sergej Lochthofen: Schwarzes Eis. Der Lebensroman meines Vaters; Rowohlt, 448 Seiten, 19,95, ISBN-13: 978-3498039400

Wolfgang Ruge: "Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion".
Rowohlt Verlag, 496 Seiten, 24,95 Euro. ISBN: 978-3-498-05791-6